Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
Burghard Dedner unter die Stichworte »Hetze« und »Tendenz zur Simultaneität« gefasst hat. Dass Woyzeck einen gehetzten Eindruck macht, spricht der Hauptmann in der fünften Szene offen (und gehässig) aus. Dass Woyzeck – aufgrund seiner inneren Verfassung ebenso wie aufgrund seiner dienstlichen Pflichten, schließlich auch aufgrund seines Verdachtes gegen Marie – tatsächlich gehetzt ist, zeigen ferner Abgangsformeln wie »Wir müssen fort«, »Ich muss fort«, »Ich muss hinaus« (Szenen 1, 4 und 11). Simultan angelegte Szenen verstärken diese Wirkung: Die Dinge entwickeln sich nicht in gemächlichem Fluss, sondern überstürzen sich. Um auf der Höhe des rasch voranstürmenden Geschehens zu bleiben, müsste der Zuschauer an mehreren Orten gleichzeitig sein, was sich aber aus bühnentechnischen Gründen nur in aufeinander folgenden Szenen realisieren lässt. So sieht Marie gleich am Anfang des Stücks den Zapfenstreich vor ihrer Wohnung vorüberziehen (Szene 2), dessen Trommeln Woyzeck und Andres draußen vor der Stadt gehört haben (Szene 1). So hören Leute, die am Tatort vorbeikommen (Szene 21), die Schreie von Maries Todeskampf (Szene 20). So hält sich Woyzeck nach der Tat vermutlich zur gleichen Zeit im Wirtshaus auf (Szene 22), zu der sich die Nachricht vom Mord in der Stadt verbreitet (Szene 23). Und so wird vermutlich die Tat besprochen, während Woyzeck noch einmal sein Kind aufsucht (Szenen 26 und 27).
Diese enge Verzahnung der Szenen entspricht zweifellos dem Stoff des Stückes und dem inneren Getriebensein seiner Hauptfigur stärker als die Annahme, der
Woyzeck
biete vereinzelte Szenen, Mosaiksteinchen und Schlaglichter auf eine geschundene Existenz.
Zuletzt ist zu fragen, welchen Erkenntniswert überhaupt die Unterscheidung zwischen geschlossener und offener Form hat. Gemeinhin gilt die offene Form als die modernere, weil der behandelte Konflikt in geschlossenen Dramen oft als bündiger Begründungszusammenhang präsentiert wird, als sei es möglich, Ursachen wie Wirkungen eines Geschehens im begrenzten Rahmen einer Bühnenhandlung darzustellen. Das aber halten die Anwälte des offenen Dramas angesichts der Kompliziertheit der modernen Welt für unrealistisch.
Woyzeck
markiert in dieser Hinsicht den Übergang vom traditionellen zum modernen Theater: Die Handlung weist an vielen Stellen (vgl. etwa das Ernährungsexperiment) über das Bühnengeschehen hinaus und erscheint dennoch als in sich geschlossen.
6. Interpretation
Ende Juli 1835, kurz nach Erscheinen seines ersten Dramas
Dantons Tod
, trat Georg Büchner in einem Brief an die Familie dem Vorwurf der »sogenannte[n] Unsittlichkeit meines Buchs« mit folgenden programmatischen Erläuterungen entgegen: »Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber
über
Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder
sittlicher
noch
unsittlicher
sein, als die
Geschichte selbst
; aber die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es auch mir nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist.« Ausdrücklich wendet sich Büchner gegen die Auffassung der »sogenannten Idealdichter«, dass die Wirklichkeit durch die Kunst verklärt und veredelt werden solle. »Dieser Idealismus«, heißt es ganz ähnlich im Kunstgespräch der
Lenz
-Novelle, die Büchner zur selben Zeit beschäftigte, »ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel.« Die »Gefühlsader« sei »in fast allen Menschen gleich«; was bedeuten soll, dass nicht nur große Herren (die Helden der herkömmlichen Tragödie) starker Gefühle und eines Schicksals fähig sind, das das Publikum bewegt. Der Dichter müsse nur »Aug und Ohren« für diese oft verborgenere Gefühlsader der durchschnittlichen Menschen haben, um deren Tragödie sichtbar zu machen.
Mit diesen Äußerungen sind die wesentlichen Aspekte vorgegeben, die in der folgenden
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