George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika
einer Abfolge von Aufschwung und Abschwung oder einer Finanzblase ähnelt. Das ist kein Zufall, denn beide Prozesse sind „reflexiv“. Wie ich an anderer Stelle erläutert habe, bedeutet dies, dass sie weitgehend von Fehlern und Fehlauffassungen angetrieben werden.
In der Aufschwungphase war die Europäische Union etwas, das der britische Psychologe David Tuckett als „fantastisches Objekt“ bezeichnete, ein unwirkliches, aber attraktives Objekt der Begierde. In meinen Augen stellte sie die Verkörperung einer offenen Gesellschaft dar – ebenfalls ein fantastisches Objekt. Sie war ein Zusammenschluss von Nationen, der sich auf die Prinzipien der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaats gründete und in dem keine Nation oder Nationalität dominierte. Ihre Schaffung war eine Meisterleistung in Sachen Stückwerk-Technik unter der Führung weitsichtiger Staatsmänner, denen klar war, dass sich das fantastische Objekt außerhalb ihrer Reichweite befand. Sie setzten sich begrenzte Ziele und starre Fristen. Dann mobilisierten sie den politischen Willen für einen kleinen Schritt nach vorn, wobei sie sich vollständig der Tatsache bewusst waren, dass nach diesem Schritt seine Unzulänglichkeit zutage treten würde, sodass ein weiterer Schritt notwendig wäre.
Auf diese Weise wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nach und nach, Schritt für Schritt, in die Europäische Union umgewandelt. In der Zeit des Aufschwungs war Deutschland die wichtigste treibende Kraft. Als der Zerfall der Sowjetunion begann, wurde den führenden deutschen Politikern klar, dass eine Wiedervereinigung nur in einem stärker vereinigten Europa möglich wäre. Sie brauchten die politische Unterstützung anderer europäischer Mächte und waren bereit, dafür beträchtliche Opfer zu bringen. Als die Verhandlungen anstanden, akzeptierten sie, ein bisschen mehr beizutragen und ein bisschen weniger zu nehmen als die anderen, wodurch sie die Einigung erleichterten. Zu jener Zeit versicherten deutsche Politiker gern, Deutschland habe keine eigenständige Außenpolitik, sondern nur eine Europapolitik. Dieser Prozess – der Aufschwung, wenn Sie so wollen – fand seine Höhepunkte 1992 mit dem Maastricht-Vertrag und 2002 mit der Einführung des Euros. Danach folgte eine Phase der Stagnation, die sich nach dem Crash 2008 in einen Desintegrationsprozess verwandelte.
Der Euro war eine unvollständige Währung und seine Architekten wussten das. Der Maastricht-Vertrag errichtete eine Währungsunion ohne politische Union. Der Euro protzte zwar mit einer gemeinsamen Notenbank, die Liquidität bereitstellen kann, doch ihm fehlte ein gemeinsames Finanzministerium, das in der Lage wäre, in Krisenzeiten das Solvenzrisiko zu bewältigen. Allerdings hatten die Architekten gute Gründe für die Annahme, zu gegebener Zeit würden weitere Schritte in Richtung einer politischen Union unternommen werden. Jedoch hatte der Euro noch weitere Mängel, die seinen Architekten nicht bewusst waren und die bis heute nicht vollständig verstanden werden. Diese Mängel trugen dazu bei, dass ein Prozess der Desintegration in Gang gesetzt wurde.
Die Väter des Euros verließen sich auf eine Interpretation der Finanzmärkte, die während des Crashs 2008 ihre Unzulänglichkeit bewies. Insbesondere glaubten sie, nur der öffentliche Sektor könne inakzeptable wirtschaftliche Ungleichgewichte hervorrufen – die unsichtbare Hand des Marktes würde diejenigen Ungleichgewichte korrigieren, die der Markt selbst verursacht. Zudem waren sie überzeugt, die von ihnen getroffenen Sicherheitsvorkehrungen gegen Ungleichgewichte aus dem öffentlichen Sektor seien ausreichend. Infolgedessen behandelten sie Staatsanleihen als risikolose Anlagen, die Banken kaufen und halten können, ohne sie durch Kapitalreserven zu unterlegen.
Als der Euro eingeführt wurde, behandelte die EZB die Staatsanleihen aller Mitgliedstaaten gleich. Dadurch hatten die Banken einen Anreiz, sich mit den Anleihen der schwächeren Länder vollzustopfen, um so ein paar Basispunkte extra zu verdienen, denn die Renditen dieser Anleihen waren ein bisschen höher. Außerdem führte dies dazu, dass die Zinsen konvergierten. Und dies wiederum führte dazu, dass sich die Wirtschaftsleistungen auseinander entwickelten. Deutschland, das mit den Lasten der Wiedervereinigung zu kämpfen hatte, unternahm vor allem am Arbeitsmarkt Strukturreformen und wurde wettbewerbsfähiger. Anderen Ländern kamen die
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