George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika
sich seiner Unzulänglichkeit vollkommen bewusst. Sie dachten aber, sobald Bedarf bestünde, könnten sie den politischen Willen für den nächsten Schritt nach vorn aufbringen.
Aber das passierte nicht, weil der Euro noch andere Unzulänglichkeiten aufwies, deren sich seine Architekten nicht bewusst waren. Sie agierten in der irrigen Meinung, die Finanzmärkte könnten ihre Exzesse selbst korrigieren, und deshalb waren die Regeln so gestaltet, dass sie nur die Exzesse des öffentlichen Sektors zügelten. Und selbst dort bauten sie zu sehr darauf, dass sich die souveränen Staaten selbst zur Ordnung rufen würden.
Doch traten die Exzesse hauptsächlich im privaten Sektor auf, denn die Zinskonvergenz erzeugte wirtschaftliche Divergenzen. Die niedrigeren Zinsen der schwächeren Länder speisten Häuserblasen, während das stärkste Land – Deutschland – seinen Gürtel enger schnallen musste, um die Bürde der Wiedervereinigung zu bewältigen. Unterdessen wurde der Finanzsektor durch die Ausbreitung unsolider Finanzinstrumente und schlechter Kreditvergabepraktiken massiv gefährdet.
Nachdem Deutschland wiedervereinigt war, kam der hauptsächliche Schwung des Integrationsprozesses zum Erliegen. Und dann entfesselte die Finanzkrise einen Desintegrationsprozess. Der entscheidende Moment kam, als Lehman Brothers pleitegegangen war und die staatlichen Autoritäten garantieren mussten, dass sie kein weiteres systemisch wichtiges Finanzinstitut mehr würden bankrottgehen lassen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bestand darauf, dass es keine gemeinsame EU-Bürgschaft geben, sondern dass sich jedes Land um seine eigenen Institutionen kümmern sollte. Dies war die Grundursache der jetzigen Eurokrise.
Die Finanzkrise zwang souveräne Staaten, die zusammengebrochene Bonität durch ihre eigene zu ersetzen. Dies musste jeder europäische Staat für sich leisten, wodurch die Kreditwürdigkeit europäischer Staatsanleihen infrage gestellt wurde. Die Risikoprämien wuchsen und die Eurozone teilte sich in Gläubiger- und Schuldnerländer auf. Deutschland machte eine 180-Grad-Wende und wurde von der treibenden Kraft der Integration zum Hauptgegner einer „Transferunion“.
So entstand ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, in dem die Schuldnerländer unter der Last ihrer Verbindlichkeiten versanken und die Überschussländer weiter ihren Weg gingen. Deutschland als größter Gläubiger konnte die Bedingungen für die Hilfen diktieren, durch welche die Schuldnerländer bestraft und in Richtung Insolvenz gedrängt wurden. Indes profitierte Deutschland von der Eurokrise, die den Wechselkurs drückte und seine Wettbewerbsfähigkeit noch weiter steigerte.
Als sich die Integration in Desintegration verwandelte, kehrte sich auch die Rolle des politischen Establishments um. Es war jetzt nicht mehr der Vorkämpfer der weiteren Vereinigung, sondern verteidigte den Status quo. Infolgedessen musste jeder, der den Status quo für nicht wünschenswert, für inakzeptabel oder untragbar hielt, eine antieuropäische Haltung einnehmen. Und während hoch verschuldete Länder in Richtung Insolvenz gedrängt werden, wächst die Zahl der Unzufriedenen weiter – ebenso wie die Unterstützung antieuropäischer Parteien wie der Wahren Finnen in Finnland.
Doch das politische Establishment Europas behauptet immer noch, es gebe keine Alternative zum Status quo. Die Finanzbehörden greifen auf immer verzweifeltere Maßnahmen zurück, um sich Zeit zu erkaufen. Aber die Zeit arbeitet gegen sie: Das Europa der zwei Geschwindigkeiten treibt die Mitgliedstaaten weiter auseinander. Griechenland steuert auf einen ungeordneten Bankrott und/oder eine Abwertung zu – mit unberechenbaren Folgen.
Wenn dieser scheinbar unvermeidliche Prozess aufgehalten und umgekehrt werden soll, müssen Griechenland und die Eurozone dringend einen Plan B umsetzen. Die Pleite Griechenlands mag unvermeidlich sein, aber sie braucht nicht ungeordnet zu verlaufen. Auch eine gewisse Ansteckung wird sich nicht vermeiden lassen – was mit Griechenland passiert, greift wahrscheinlich auf Portugal über, und auch Irlands Finanzlage könnte untragbar werden – und der Rest der Eurozone muss geschützt werden. Dies bedeutet eine Stärkung der Eurozone, für die wahrscheinlich die verbreitetere Verwendung von Eurobonds und ein System der Einlagensicherung für die gesamte Eurozone nötig sind.
Um den nötigen politischen Willen zu schaffen, könnte ein Plan B für die EU an sich nötig
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