Georgette Heyer
ganz vernarrt in sie. Vor zwei Tagen schickte er ihr eine Botschaft, sie
möge sich bereithalten, mit ihm zu fliehen, und Mary öffnete den Brief. Sie ist
keine dieser oberflächlichen, nichtsnutzigen Gänse, Mylady, sondern ein
ehrbares Mädchen und der Liebling ihres Großpapas. Sie wollte, wie Sie
mittlerweile ja gelesen haben, ihre Schwester vor dem Ruin retten, und jetzt
ist sie schon zwei Tage fort, und deshalb sage ich, der Marquis hat sie
entführt. Ich kenne Mary, und ich bin überzeugt davon, daß sie auf keinen Fall
freiwillig mit ihm ging.»
Lady Fanny
lauschte ihr in entsetztem Schweigen. Es hatte ganz den Anschein, als dürfe man
die Affäre doch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sir Giles Challoner war
ihr ein Begriff, und sie machte sich keine Illusionen, daß er, falls dieses
Mädchen wirklich seine Enkelin war, die Entführung nicht so ohne weiteres
hinnehmen würde. Offenbar braute sich hier ein schrecklicher Skandal zusammen
(wenn nicht noch Schlimmeres), und selbst wenn Lady Fanny unzählige Male
schwarzseherisch prophezeit hatte, man müsse eines Tages bei ihrem Neffen mit
etwas Derartigem rechnen, war sie doch nicht die Frau, die untätig zusah, wie
er dem Rand eines gefährlichen Abgrunds zusteuerte, denn sie hatte eine
heimliche Schwäche für Vidal und eine noch viel größere für seine Mutter, wozu
außerdem noch ein guter Teil Familienstolz kam. Ihr erster Gedanke war, Avon
so schnell wie möglich von dem verhängnisvollen Vorfall zu unterrichten, doch
im nächsten Augenblick sank ihr der Mut. Sie konnte sich wirklich nicht
ausgerechnet jetzt damit an ihn wenden, wo sein Sohn ohnehin schon wegen einer
anderen Schandtat gezwungen gewesen war, das Land zu verlassen. Deshalb
entschloß sie sich also, obwohl sie keine klare Vorstellung hatte, was dabei
herauskommen würde und ob man die Angelegenheit überhaupt vertuschen konnte,
Léonie zu informieren.
Sie
musterte Mrs. Challoner mit einem abschätzenden Blick. Die Gute ließ es sich
nicht träumen, daß sie es mit einer ausgesprochen gewitzten Gegnerin zu tun
hatte, und wäre wohl aus allen Wolken gefallen, wenn sie gewußte hätte, wieviel
Lady Fanny von den Überlegungen erriet, die sie sich hütete auszusprechen.
«Ich werde
sehen, was ich für Sie tun kann», erklärte Fanny schroff. «Aber ich empfehle
Ihnen, diese unerfreuliche Sache für sich zu behalten. Ich werde Ihre höchst
seltsame Geschichte meiner Schwägerin erzählen, doch ich mache Sie noch einmal
darauf aufmerksam, Madam, daß das Ziel, das Sie im Auge haben, in dem Moment
für Sie in meilenweite Ferne rückt, wo Sie einen Skandal provozieren. Wenn der
Name Ihrer Tochter in aller Munde ist, wird mein Neffe sie auf keinen Fall
heiraten, das versichere ich Ihnen. Und was den Skandal betrifft, meine Liebe,
so überlasse ich es Ihnen zu beurteilen, wen er am empfindlichsten treffen
würde.»
Mrs.
Challoner befand sich in größter Verlegenheit um eine passende Antwort. Lady
Fannys Selbstsicherheit schüchterte sie ein, und sie hatte das Gefühl, als
entzöge ihr jemand den Boden unter den Füßen. Sie war überzeugt davon gewesen,
Lady Fanny würde vor Verzweiflung die Hände ringen. Doch nun saß sie ihr so
ruhig und mit leise verächtlicher Miene gegenüber, daß sie sich allmählich
fragte, ob sich die Alastairs durch die Drohung, sie bloßzustellen, überhaupt
schrecken ließen. Ach, wenn doch nur ihr Bruder biergewesen wäre, um sie zu
beraten! Endlich gab sie ihrem Herzen einen Stoß und sagte kampflustig: «Und
wenn ich nicht schweige? Was dann?»
Lady Fanny
hob ein wenig die Brauen. «Ich kann mir nicht anmaßen, für meinen Bruder zu
antworten. Ich sagte Ihnen bereits, ich würde Ihre Geschichte meiner
Schwägerin erzählen. Wenn Sie die Güte haben, Ihre Adresse zu hinterlassen,
wird Sie die Herzogin – oder der Herzog – zweifellos aufsuchen.» Sie streckte
die Hand nach der kleinen Silberglocke aus und läutete. «Ich kann lediglich
nochmals betonen, Madam, falls Ihnen tatsächlich ein Unrecht zugefügt wurde,
wird Seine Gnaden bestimmt nicht zögern, die Affäre ordnungsgemäß zu regeln.
Erlauben Sie mir nun, Ihnen guten Tag zu wünschen.»
Ihr Nicken
war so eindeutig, daß Mrs. Challoner sich instinktiv von ihrem Stuhl erhob,
doch dann sagte sie, ohne den Lakai zu beachten, der ihr bereits die Tür
aufhielt: «Wenn ich in einem Tag nichts von Ihnen höre, werde ich tun, was ich
für richtig halte.»
«Es besteht
nicht die geringste Aussicht, daß
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