Georgette Heyer
Ohren kommen ließe. Du mußt
sie sofort nach London zurückholen, damit wir gemeinsam beraten können, was am
besten zu tun ist.»
«Es ist
zwar unmöglich, Tante Léonies Charme zu widerstehen», stellte Mr. Marling fest,
«aber haben Sie in Betracht gezogen, Mama, daß sie unter Umständen sogar diese
Niederträchtigkeit nicht ernst nimmt?»
«Das soll
deine letzte Sorge sein, mein Lieber. Du hast ihr lediglich diesen Brief zu
übergeben und sie nach London zurückzubringen», sagte Lady Fanny in einem Ton,
der keine Widerrede duldete, und der an Gehorsam gewöhnte Mr. Marling traf,
allerdings ohne seine Mission zu billigen, noch am Abend desselben Tages in
Lady Vanes Haus in der Nähe von Bedford ein, wo es ihm trotz der kleinen
Gesellschaft, die hier versammelt war, gelang, seine Tante in einem Nebenraum
unter vier Augen zu sprechen. Sie warf einen forschenden Blick auf seine
kummervolle Miene und fragte ihn hastig, ob irgend etwas nicht in Ordnung wäre.
«Tante»,
sagte Mr. Marling mit feierlich gedämpfter Stimme, «ich habe schlechte
Nachrichten.»
Léonie
wurde blaß. «Monseigneur?» riet sie zögernd.
«Nein,
Madam, soweit ich informiert bin, erfreut sich mein Onkel unverminderter
Gesundheit.»
«Ah,
mon Dieu, dann Dominique! Hat
ihn jemand in einem Duell erschossen? Oder vielleicht ein Unfall mit seiner
Jacht? Ein tödliches Fieber? So sag schon!»
«Mein
Cousin ist wohlauf, Madam. Diesbezüglich brauchen Sie sich nicht zu sorgen.
Aber ich bitte Sie trotzdem, auf das Ärgste gefaßt zu sein.»
«Was könnte
ärger sein, als daß er nicht mehr lebt?» sagte Léonie. «Und nun hör endlich
auf, mich auf einen Schock vorzubereiten, das macht mich ausgesprochen nervös.
Was ist mit meinem Sohn passiert?»
«Madam, zu
meinem tiefsten Bedauern bin ich gezwungen, Ihre Ohren mit einer Geschichte zu
beleidigen, die ich persönlich über alle Maßen empörend finde. Vidal hat – und
ich fürchte, wahrscheinlich mit Gewalt – eine tugendhafte junge Dame aus guter
Familie entführt.»
«Ah, mordieu, es ist diese bourgeoise!» rief Léonie. «Nun wird Monseigneur aber
wirklich ungehalten sein! Allons, erzähl mir alles!»
Mr.
Marlings strenge Züge nahmen einen gequälten Ausdruck an. «Vielleicht ziehen
Sie es vor, verehrte Tante, statt dessen den Brief zu lesen, den Ihnen meine
Mutter geschrieben hat.»
«Rasch,
rasch, dann gib doch her!» sagte Léonie, indem sie ihm das Schreiben fast aus
der Hand riß.
Lady Fannys
aufgeregtes Gekritzel bedeckte drei Seiten. Léonie überflog sie hastig und
rief, als sie beim Schluß angelangt war, Fanny sei wirklich ein Engel. Dann
erklärte sie Mr. Marling, sie würde sofort nach London zurückkehren, und
entschuldigte sich bei ihrer Gastgeberin, die soeben den Raum betrat, sie
schon so bald wieder verlassen zu müssen, aber Lady Fanny sei krank und brauche
ihre Hilfe. Lady Vane bekundete lebhafte Anteilnahme und stellte John eine
Menge mitfühlender Fragen, denen der gewissenhafte junge Mann, sich vor Verlegenheit
windend, auszuweichen versuchte. Sie drang in Léonie, ihre Abreise doch wenigstens
auf den nächsten Morgen zu verschieben, und Léonie stimmte aus Rücksicht auf
ihren Neffen, der den ganzen Tag unterwegs gewesen war, dem Vorschlag zu.
Als die
beiden dann tags darauf bequem in der riesigen Reisekutsche Ihrer Gnaden saßen,
hatte John nicht den Eindruck, daß Léonie das Benehmen ihres Sohnes großen
Kummer bereitete. Sie sagte heiter, es sei doch sehr komisch, daß Dominique die
falsche Schwester entführt hatte, und fragte ihren Neffen, was seiner Meinung
nach geschehen war, worauf John, der sich von den Strapazen hundemüde fühlte,
ärgerlich erwiderte, er habe wahrhaftig keine Ahnung.
«Also ich
finde, es war ausgesprochen dumm von ihm», sagte die Herzogin.
Mr. Marling
antwortete schroff: «Vidals Betragen ist fast immer dumm. Er besitzt weder
Verstand noch weiß er, was sich schickt.»
«In der
Tat?» sagte die Herzogin gefährlich ruhig.
«Ich habe
mich immer wieder bemüht, ihn für ernsthafte Dinge zu interessieren.
Schließlich bin ich sechs Jahre älter als er, deshalb war es wohl nicht verwunderlich,
wenn ich annahm, daß mein Rat und meine wiederholten Warnungen nicht auf
unfruchtbaren Boden fallen würden. Doch offenbar habe ich mich geirrt. Der
skandalöse Vorfall neulich bei Timothy's verleidet mir sogar jeden Klubbesuch,
denn es ist weiß Gott kein angenehmes Gefühl, daß jeder Fremde zwangsläufig
erfahren muß, in meiner
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