Georgette Heyer
Aufruhr; Nacht für Nacht benetzte sie ihr Kissen mit bitteren
und nutzlosen Tränen, gleicherweise eine Beute von Furcht wie von zerfleischender
Reue. Sie trachtete dies vor ihrem Gatten zu verbergen, vor dem sie Angst
hatte, doch mit ihrem Pseudo-Sohn konnte sie noch weniger darüber sprechen.
Tag und Nacht stand der Eingeschüchterten Léonies Bild vor den Augen, und ihre
Arme streckten sich ihr sehnsuchtsvoll entgegen. Saint-Vire fuhr sie barsch
an, als er ihre rotverweinten Augen und ihre angegriffenen Züge erblickte.
«Laß das
Gejammer, Marie! Du hast das Mädel nicht mehr gesehen, seit sie einen Tag alt
war, du kannst also keine Zuneigung für sie empfinden.»
«Sie ist
meine Tochter!» sagte Madame mit bebenden Lippen. «Meine Tochter! Das
verstehst du nicht, Henri. Du kannst es nicht verstehen.»
«Wie sollte
ich auch deinen verrückten Trübsinn verstehen? Du wirst mich noch mit deinem
Seufzen und deinen Tränen zugrunde richten. Hast du schon bedacht, was eine
Entdeckung bedeuten würde?»
Sie rang
die Hände, und ihre matten Augen füllten sich neuerlich mit Tränen.
«Oh, Henri,
ich weiß es, ich weiß es! Den Ruin! Ich – ich möchte dich nicht verraten, doch
meine Sünde kann ich nicht vergessen. Wenn du es doch zuließest, daß ich Vater
Dupré beichte!»
Saint-Vire
schnalzte ungeduldig mit der Zunge.
«Du mußt
verrückt sein!» sagte er. «Ich verbiete es! Verstanden?» Madames Taschentuch
trat in Aktion.
«Du bist so
hart!» schluchzte sie. «Weißt du, daß die Leute sagen, sie sei – sie sei – dein
illegitimes Kind? Mein süßes Töchterchen!»
«Selbstverständlich
weiß ich's! Das ist ja das Schlupfloch, das sich uns bietet; ich sehe nur noch
nicht, wie ich es mir zunutze machen kann. Ich sage dir, Marie, jetzt gilt es
nicht zu bereuen, sondern zu handeln! Willst du denn unseren Untergang erleben?
Weißt du, wie vollständig der sein würde?»
Sie wich
vor ihm zurück.
«Ja, Henri,
ja! Ich – ich weiß es, und ich fürchte mich! Kaum wage ich das Haus zu verlassen.
Jede Nacht träumt mir, daß alles entdeckt ist. Ich glaube, ich bin dem Wahnsinn
nahe.»
«Beruhigen
Sie sich, Madame. Möglicherweise spielt Avon dies Geduldspiel, um meine Nerven
so anzuspannen, daß ich alles gestehe. Hätte er Beweise, würde er sicher schon
zugeschlagen haben.» Saint-Vire biß mit verzerrten Zügen an seinen Nägeln.
«Dieser
Mensch! Dieser entsetzliche, grausame Mensch!» Madame erschauerte. «Er verfügt
über die Mittel, dich zu zerschmettern, und ich weiß, daß er es tun wird.»
«Wenn er
keine Beweise hat, kann er's nicht tun. Vielleicht hat Bonnard – oder sein
Weib – ein Geständnis abgelegt. Beide müssen tot sein, denn ich möchte
schwören, daß Bonnard es nie gewagt hätte, das Mädel aus seiner Obhut zu
entlassen. Bon Dieu, warum habe ich mich nicht erkundigt, wohin sie sich
wandten, als sie die Champagne verließen?»
«Du
meintest – du meintest, es sei besser, es nicht zu wissen», stammelte Madame.
«Aber wo fand dieser Mensch meine Kleine? Wieso wußte er ...?»
«Er ist der
personifizierte Teufel. Ich glaube, es gibt wirklich nichts, das ihm unbekannt
ist. Aber wenn ich bloß das Mädel seinen Händen entwinden könnte! Dann kann er
nichts unternehmen. Ich bin überzeugt, daß ihm Beweise fehlen.
Madame
begann händeringend im Zimmer auf und ab zu gehen.
«Ich kann
es nicht ertragen, sie in seiner Gewalt zu wissen!» rief sie aus. «Weiß Gott,
was er ihr alles antun wird! Sie ist so jung und schön ...»
«Sie hat
Avon nur zu gern», sagte Saint-Vire, kurz auflachend. «Und sie ist sehr wohl
imstande, auf sich achtzugeben, diese durchtriebene kleine Person!»
Madame war
stehengeblieben, Hoffnung glomm in ihren Zügen auf.
«Henri,
wenn Avon keine Beweise hat, wie kann er da wissen, daß Léonie mein Kind ist?
Glaubt er nicht vielleicht, daß sie das ist – was die Leute sagen? Wäre das
nicht möglich?»
«Möglich
wäre es», gab Saint-Vire zu. «Trotzdem glaube ich nach den Worten, die er zu
mir sprach, sicher zu sein, daß er es erraten hat.»
«Und
Armand!» rief sie. «Wird er's nicht erraten? O mon Dieu, mon Dieu, was
sollen wir tun? Lohnte es sich, Henri? Lohnte es sich, nur um Armand eine
Bosheit anzutun?»
«Ich
bedaure es nicht im geringsten!» fuhr Saint-Vire sie an. «Was ich tat, habe ich
getan, und da ich's nicht ungeschehen machen kann, werde ich nicht meine Zeit
damit vergeuden, mich zu fragen, ob es sich lohnte. Sie werden die Güte
Weitere Kostenlose Bücher