Georgette Heyer
allerlei Erkundigungen
ein, Kinder, und dort verbrachte ich auch die Nacht. Vom Wirt erfuhr ich, daß
Saint-Vire um zwei Uhr nachmittags mit Léonie nach Rouen
aufgebrochen sei, und weiters, daß du, Rupert, etwa eine halbe Stunde später
ein Pferd gemietet habest – besitzt du übrigens dieses Pferd noch, oder ist es
bereits den Weg seines Gefährten gegangen?»
«Nein, es
ist noch leibhaftig hier», grinste Rupert.
«Du setzest
mich in Erstaunen. All dies, wie gesagt, erfuhr ich vom Wirt. Es war bereits zu
spät, mich auf die Suche nach euch zu machen, und außerdem erwartete ich euch
halb und halb in Le Havre. Als ihr nicht eintraft, fürchtete ich, daß es dir,
Rupert, nicht gelungen war, meinen
vielgeliebten Freund Saint-Vire zu erwischen. Daher fuhr ich heute morgen mit
einer Kutsche die Straße nach Rouen entlang und stieß dabei auf
herrenloses Gut.» Seine Gnaden zog seine Schnupftabakdose hervor und öffnete
sie. «Die Kutsche meines viellieben Freundes, mit dem Wappen auf der Tür. Man
kann es kaum sehr klug von meinem Freunde nennen, seine Kutsche so herumliegen
zu lassen, damit ich sie fände, aber es ist natürlich möglich, daß er mich
nicht hier erwartete.»
«Er ist ein
Dummkopf, Monseigneur. Er wußte nicht einmal, daß ich mich schlafend stellte.»
«Ich stimme
dir bei, mein Kind, die Welt ist von Dummköpfen bevölkert. Du hast wohl recht.
Um wieder zum Thema zurückzukommen: es war
wahrscheinlich, daß Léonie geflohen war; weiters war es wahrscheinlich, daß
sie sich nach Le Havre gewandt hatte. Da aber keiner von euch im Hafen von Le
Havre eingetroffen war, erriet ich, daß ihr euch irgendwo in der Nähe der
Straße nach Le Havre verborgen haltet. Aus diesem
Grunde, mes enfants, fuhr ich die Straße zurück, bis ich zu einem Seitenweg
gelangte. Durch diesen Seitenweg fuhr ich weiter.»
«Wir ritten
durch die Felder», warf Léonie ein.
«Zweifellos
ein kürzerer Weg, den man jedoch einer Kutsche kaum zumuten
kann. Im Weiler, zu dem ich kam, wußte man nichts von euch.
Ich fuhr
weiter und gelangte schließlich nach verschiedenen Umwegen hierher.
Ihr seht, das Schicksal war mir günstig. Wollen wir hoffen, daß es
meinem lieben Freund in gleicher Weise günstig gesinnt ist. Kind, geh dich
umkleiden.»
«Ja,
Monseigneur. Was werden wir jetzt tun?»
«Das werden
wir sehen», sagte Avon. «Fort mit dir!»
Léonie
entfernte sich. Seine Gnaden blickte Rupert an.
«Nun,
junger Wirrkopf, hat ein Arzt deine Wunde gesehen?»
«Ja, er kam
noch gestern abend, hol ihn der Teufel!»
«Was sagte
er?»
«Oh,
nichts! Er kommt heute wieder.»
«Aus deiner
Miene möchte ich schließen, daß er dir einige Tage Bettruhe
verordnet hat; mein Kind.»
«Zehn Tage,
Gott verdamm ihn! Aber morgen bin ich wieder wohlauf.»
«Du wirst
trotzdem hierbleiben, bis dir der geschätzte Arzt das Aufstehen
erlaubt. Ich muß Harriet kommen lassen.»
«Großer
Gott, mußt du das? Warum?»
«Um mein
Mündel zu chaperonieren», erwiderte Seine Gnaden ruhig.
«Hoffentlich
führt mein Brief nicht eine neuerliche Nervenkrise herbei.
Gaston soll
am besten gleich nach Le Havre aufbrechen.» Er erhob sich.
«Ich
brauche Feder, Tinte und Papier. Werde wohl alles unten finden.
Du solltest
ein Stündchen schlafen, mein Lieber.»
«Aber
Saint-Vire?» fragte Rupert.
«Der liebe
Graf durchforscht aller Wahrscheinlichkeit nach die Umgebung. Ich
hoffe ihn bald hier zu sehen.»
«Aber was
wirst du tun?»
«Ich? Ich werde
nicht das mindeste tun.»
«Ich möchte
was drum geben, sein Gesicht zu sehen, wenn er dich hier antrifft.»
«Ja, ich
glaube nicht, daß er sehr erfreut sein wird», sagte Seine Gnaden und
verließ das Zimmer.
21
DIE NIEDERLAGE DES GRAFEN SAINT-VIRE
Wirt und Wirtin vom «Schwarzen Stier» in
Le Dennier hatten noch nie in ihrer bescheidenen Herberge solch erlauchte Gäste
aufgenommen gehabt. Madame entsandte unverzüglich einen Burschen zu ihrer
Nachbarin, Madame Tournoise, und diese eilte sogleich mit ihrer Tochter herbei,
um Madame bei ihren Rüstungen zu helfen. Als sie hörte, daß niemand Geringerer
als ein englischer Herzog mit seiner Entourage im Gasthaus eingetroffen sei,
riß sie verwundert die Augen auf, und als Seine Gnaden langsam die Treppe
herunterkam, in einen Rock von blassestem Lavendelblau mit Silbertressen und in
eine Silberweste gehüllt, Amethyste in seinem Spitzenjabot und an den Fingern,
starrte sie ihn j offenen Mundes an.
Seine
Gnaden suchte das kleine Gastzimmer auf und
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