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Gepeinigt

Titel: Gepeinigt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theresa Saunders
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sofort auffallen müssen. Auch hätte sie ihre vielleicht einzige Gelegenheit zur Flucht nicht verpatzen dürfen. Sie durfte nicht aufgeben, nicht den Mut sinken lassen und musste ihre Chance ergreifen, aus diesem Alptraum zu entfliehen, bevor dieser Geistesgestörte noch völlig durchdrehte.
    Ãœberlegungen wie diese waren sehr ungewöhnlich für Mary. Sie war normalerweise nicht der introspektive Typ. Wenn etwas nicht funktionierte, biss sie die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Das eigene Verhalten, gewisse Situationen zu reflektieren, war in ihrem Job unabdingbar und stellte für sie immer wieder eine große Herausforderung dar.
    Schließlich begann die Hitze etwas nachzulassen, und Mary vermutete, dass der Abend hereinbrach. Sie war froh und dankbar, dass es ein wenig kühler wurde, trotzdem zog sie ihre Bluse nicht an.
    Während der nächsten eintönigen Stunden überließ sich Mary ihren Gedanken. Der Versuch, sie zu kontrollieren, ihnen eine bestimmte Richtung zu geben, scheiterte, und am Ende gab sie auf. Sie musste an ihre Eltern, an ihre Geschwister
denken, die sie so lange nicht mehr gesehen hatte, mit denen sie kaum noch sprach. Sie dachte über die Schwachpunkte nach, die sie an ihrem Gegner entdeckt zu haben glaubte, und fragte sich, welche Bedeutung diese wohl für ihre Situation haben mochten. Falls sie überhaupt eine hatten. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer letzten fehlgeschlagenen Beziehung und was wäre, wenn sie sich das nächste Mal mehr Mühe geben würde. Sie dachte an ihren Job. Die kleinen Irritationen des Alltags: wer nie den Kaffeefilter wechselte oder immer pünktlich auf die Minute ging, weil daheim die Familie wartete. Sie dachte an diejenigen, die die allgemeine Moral untergruben, indem sie andere kritisieren, anstatt sich um die Verbesserung ihrer eigenen Kompetenzen zu kümmern. Einige grämten sich über verpasste Chancen und ließen ihren Frust an den Neuen und Schwachen aus. Andere hingegen hatten ihr unermesslich viel beigebracht und das Wissen uneigennützig und vorbehaltlos mit ihr geteilt. Tick, tick, tick.
    Mein Gott, sie hoffte so sehr, dass der Fall Nick Kennedy übertragen wurde. Wie eine Mutter, die sich den besten Lehrer der Schule für ihr Kind wünscht, so wünschte sich auch Mary, dass sich der Beste der Abteilung ihres Falles annahm. Alle anderen reichten nicht an ihn heran, nicht einmal sie selbst, wie sie sich beschämt eingestand.
    Sie fragte sich, ob ihr das Leben eine zweite Chance bieten würde und sie in ihren Beruf zurückkehren konnte. Im Moment fühlte sie sich gedemütigt, war am Boden. Würde eine andere Mary in ihrem Job bestehen? Sie wusste instinktiv, dass sie danach nicht mehr dieselbe sein würde, dass das eine oder andere zerbrochen, unwiederbringlich verloren war. Sie wusste, dass es lange dauern würde, bis sie diesen Vorfall überwunden haben würde, selbst wenn es ihr gelänge,
zu fliehen. Aber wie lange? Wie weit konnte man so etwas überhaupt erfolgreich verarbeiten? Sie hatte keine Ahnung.
    Sie musste geschlafen haben, denn plötzlich mischte sich in den feuchten, modrigen Geruch und den Gestank nach abgestandenem Urin ein anderes Aroma. Ihre Augen hatten sich zwar an die Dunkelheit gewöhnt, doch es fiel ihr schwer, Entfernungen einzuschätzen. Sie tastete herum, versuchte den neuen Geruch zu lokalisieren. Ja, da war etwas. Fühlte sich an wie eine Packung Toastbrot. Roch auch so. Sie blickte hastig zur Tür, zumindest dorthin, wo sie die Tür vermutete. War er hereingekommen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Lauerte er ihr im Dunkeln auf? Sie holte tief Luft, bemühte sich, ruhig zu bleiben, und lauschte. Sekunden vergingen, Minuten. Nichts. Alles still. Bis auf das Geräusch ihres eigenen Atems. Sie war also allein. Wie hatte sie ihn überhören können? Hatte sie, während sie schlief, etwa eine Gelegenheit zur Flucht verpasst?
    Sie setzte sich auf und stieß gegen etwas. Sie tastete über den dreckigen Betonboden. Fand noch etwas Abgepacktes, einen Brotaufstrich, wie es ihn häufig in Motels gab.
    Sie zögerte keinen Augenblick. Er hatte ihr etwas zu essen gebracht, und das zumindest war ein Segen. Er wollte sie also – zumindest vorläufig – am Leben lassen. Und die Lebensmittel würden ihr neue Kraft geben. Sie machte sich vier Honigbrote. Sie kaute gerade den letzten Bissen, als sie das

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