Gepeinigt
natürlich, dass sie mit dieser Show etwas anderes bezweckten. Als der Bus schlieÃlich auftauchte, stellten sich Topfschnitt und Igelkopf gleichzeitig auf die Hinterräder, als hätte ein Dompteur mit der Peitsche geknallt. Lobheischend blickten sie zu Simon herüber, der keine Reaktion zeigte, und machten sich dann endlich davon. Zweifellos auf der Suche nach dem nächsten Opfer.
19:20 Uhr
Der Dienstraum lag wie ausgestorben da, als Mary mit ihrem Subway-Sandwich zurückkehrte. Das Licht brannte, und die Computer waren noch nicht ausgeschaltet â die Putzfrau war also noch nicht da gewesen -, aber die Dunkelheit drauÃen verlieh dem Raum eine fremdartige Atmosphäre. Geräusche,
die man während des Tages nie hörte â das Krabbeln von Kakerlaken, das Summen der Geräte -, nahmen übergroÃe Dimensionen an und störten die Konzentration. Die Schreibtische der anderen wirkten auf einmal wie Altäre â heilig, unnahbar und doch, in diesem verführerischen Moment, zugänglich, sie hätte sie durchwühlen können.
Vor zwei Wochen hätte es Mary riskiert und einen heimlichen Blick in die Akten geworfen, um etwas über den Kenntnisstand ihrer Kollegen zu erfahren. Aber der neuen Mary fehlte der Mut dazu. Und das machte sie wütend. Sie wickelte ihr Sandwich aus, wünschte, sie hätte ein Bier, musste sich aber mit einem schlechten Kaffee zufriedengeben. Jeder Biss tat weh und wurde von einem wütenden Gedanken begleitet. Aber sie aà schnell, denn ihre Gedanken waren chaotisch.
Ihr Gespräch mit Claudia über Nicks geheiligtes Warum hatte keine Ergebnisse gebracht. Und auch jetzt noch kreisten ihre Ãberlegungen immer wieder um dieselben nutzlosen Ideen wie eine leere Filmrolle. Was sie brauchte, war eine neue Strategie, einen neuen Ansatzpunkt.
Sie warf ihr Sandwichpapier in einen Papierkorb, zog eine Schublade auf und holte einen Schreibblock hervor. Sie zeichnete ein Venn-Diagramm, starrte darauf und überlegte sich drei verschiedene Ãberschriften. Dann riss sie das Blatt ab, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Sie lieà die Stirn auf den Block sinken.
Doktor Ritchie glaubte nicht, dass es zu einer Vergewaltigung gekommen war. Aber warum hatte sich dann ihr Entführer sexuell in Szene gesetzt? Warum der Bondage-Suit? Nur zur Verkleidung? Das bezweifelte sie. Es war zu mühsam und zeitaufwendig, einen solchen Anzug an- und wieder auszuziehen. Er hatte also einen bestimmten Zweck erfüllt. Und dann das Ausziehen, die Reizwäsche. Ob er impotent
war? Ein Fetischist? Warum hatte er sie nicht angefasst â zumindest nicht, wenn sie bei Bewusstsein war? Warum eine derart persönliche Attacke, wo ihr der Angreifer doch vollkommen unbekannt war?
Das alles ergab keinen Sinn.
Und doch â¦
Warum hatte er direkt neben ihr geparkt? Wäre ihm jedes Opfer recht gewesen â ein Jugendlicher, eine alte Frau, ein fünfzigjähriger Transvestit? Und selbst wenn, woher hätte er wissen sollen, dass das Opfer allein und ohne Begleitung war und nicht Mann oder Bruder von der Arbeit abholte? Dass sie nicht sofort vermisst würde? AuÃer ⦠er war ihr gefolgt! Vom Revier! Er hatte beobachtet, wie sie allein in ihren Wagen stieg. Und wenn das stimmte, war er nur hinter irgendeinem Polizisten beziehungsweise einer Polizistin her gewesen, oder hatte er speziell sie im Auge gehabt?
Mary erhöhte ihre Konzentration. Sie setzte sich auf, doch das Licht lenkte sie ab, also senkte sie den Kopf wieder über den Block, massierte sich die Schläfen und überlegte. Mobilisierte all ihre Gehirnzellen.
Angenommen, er war ihr gefolgt, warum ihr und nicht einer anderen Polizeibeamtin? Eine Uniformierte wäre für einen Fetischisten doch weit reizvoller gewesen? Sie war fast hundertprozentig sicher, dass er zum Fetischismus neigte. Vielleicht war es ihm nicht gelungen, eine Uniformierte allein abzufangen? Oder war der Zeitpunkt des Schichtwechsels einfach zu ungünstig für eine Entführung gewesen? Möglich, aber irgendwie fühlten sich diese Ãberlegungen unstimmig an. Zu viel an dieser Entführung war sorgfältig geplant gewesen.
Sie musste also davon ausgehen, dass er es speziell auf sie abgesehen hatte. Aber warum? Sie kannte ihn nicht. Eine
lang zurückliegende Verhaftung? Aber das erklärte nicht die sexuellen Perversionen. AuÃerdem, wenn er persönliche Rachegefühle gehegt
Weitere Kostenlose Bücher