Gerade noch ein Patt
»Furchtbare Wesen. Manche sagen, sie schlafen hier immer noch und warten. Ich habe sie noch nie gesehen, aber es könnte sein, könnte sein. Klugerweise fürchteten sich die Normalsterblichen vor dem, was hier ange-richtet wurde. Ihre Reaktion war krass, rüde, heftig, aber wirkungsvoll.« Er klopfte mit den Knöcheln gegen den Block. »Diese Masse toten Materials versiegelt die Wiege und macht einen Sarg daraus.«
»Sind dort Leute begraben?«
ZauberMann nickte. »Ich höre die Geister in der Nacht weinen. Letzte Nacht haben sie geweint und ihren und unseren Verlust betrauert, aber sie sind von Wut und Haß umgeben und können nichts tun.« ZauberMann wühlte unter seinen Lumpen und brachte ein Stück Kreide zum Vorschein. Er zog sie über den Block, aber der Strich verblaßte fast ebenso rasch, wie er entstand. »Eine Magie, die nicht magisch ist. Ein Vermächtnis der Macher, daß niemand die Reinheit ihres Hasses entweihen kann. Es ist ihre Schande und auch unsere Schande.«
ZauberMann kniete nieder und hob sanft eine der abgestellten Gaben auf. Er entfernte das karierte Tuch, in das sie eingewickelt war, und enthüllte eine verzierte Spange, die aussah, als sei sie tatsächlich aus Silber. »Und doch ist sie entweiht, auf eine Weise, die solche wie sie nicht verstehen können. Denn im Herzen des Hasses existiert oft Liebe. Liebe bindet auch und kann uns mit Scheuklappen auf den Weg in die Zukunft geleiten. Wir gehen, wir reden, wir spielen, aber die Zukunft kommt zu uns und läßt sich nicht verleugnen. Manchmal kämpfen wir gegen sie an, was nur beweist, daß wir Narren sind. Manchmal glückliche Narren, aber immer unwissende Narren.« Er wickelte die Spange wieder ein und legte sie behutsam zurück. »Die tote Masse, die diesen Ort versiegelt, verspricht nur das Ende des Ringens. Sie tut nichts, um es tatsächlich herbeizuführen.«
Andy hatte den Schamanen vor dieser Darbietung für ziemlich verdreht gehalten, aber jetzt war er davon überzeugt, daß er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Er sah in die Richtung der Straße, in der das Eingangsschild zur Metro lockte.
»Hör mal, ich muß jetzt gehen.«
»Das ist nicht dein Weg.«
»Ja, aber ein paar Leute werden sich wundern, wo ich geblieben bin.« Andy schlug den direkten Weg zur Metro ein. Die Zugangskontrollen würden ihm den Schamanen vom Hals schaffen.
ZauberMann seufzte und folgte ihm. Kaum hatten sie die Straße betreten, als sich die Stimmung des Schamanen aufhellte. Er redete jetzt fast im Plauderton.
»Die Stadt ist kein Ort für die natürliche Welt, kein Ort für die meisten Leute mit meiner Orientierung. Schamanen sind selten hier, und die meisten von uns binden sich an die Wesen, die der Mensch korrumpiert hat. Ich nicht. Weißt du, man sucht sich sein Totem nicht aus, sondern es sucht dich aus, weil du bereits eins mit ihm bist. Das läßt jene, die an korrumpierte Totems gebunden sind, in einem ganz anderen Licht erscheinen, nicht wahr? Was hat der Mensch geleistet? Aber ich bin hier, um dir zu sagen, daß der Mensch keine Macht über mein Totem hat. Wir kommen ohne, nein, trotz seiner Einmischung zurecht. Wir gedeihen. Und das werden wir auch in Zukunft. Du kannst ebenfalls gedeihen. Ist gar nicht so schwierig. Du mußt wissen, wer deine Chummer sind, du mußt wissen, wo das Geld und die Habgier ist und wie du beides für deine Zwecke ausnutzen kannst. Du mußt die Spalten und Risse suchen und dich darin verstecken.«
Verstecken hörte sich für Andy im Augenblick nach einer guten Idee an. Er fand ZauberManns gutgelaunten Ratschlag ebenso verblüffend wie seine mystischen Äußerungen. In mancherlei Hinsicht war der heruntergekommene kleine Schamane beunruhigender als die Shadowrunner, die sein Leben bedroht hatten. Andy fragte sich, wie er sich je gewünscht haben konnte, ein Schamane zu sein. Schamanen waren nicht alle so wie ZauberMann, oder? Sam Verner jedenfalls nicht. Oder doch? Verner war auch ein Shadowrunner, und die Sha-dowrunner, die Andy kennengelernt hatte, waren ganz und gar nicht wie jene, von denen er geträumt hatte. Soviel wußte er noch über sie.
Die Metro-Station und die Freiheit von dem plappernden Schamanen waren wenig mehr als einen Block entfernt, nur noch ein Stück an der Galerie und der Gartenanlage des Smithsonian Castle vorbei. Andy ging ein wenig schneller, aber als sie die Ecke der Freer-Galerie erreichten, blieb er verdutzt stehen, da er sah, daß das Summen, das er seit seinem Erwachen
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