Geräusch einer Schnecke beim Essen
fünf Gramm wog, wehrte sie meine fünfzig Kilo problemlos passiv durch ihren Schleim ab und kroch ungestört weiter.
Was täte ich zu meiner Verteidigung und wie entkäme ich, wenn ich einem Tier begegnete – Patricia Highsmiths riesige fleischfressende Schnecken fielen mir wieder ein –, das im Verhältnis zu mir so groß war wie ich im Verhältnis zur Nacktschnecke? Mir fiel keine passive menschliche Verteidigungsmethode ein, die so genial war wie der Schleim der Schnecken.
Hinsichtlich ihrer Körpergröße sind die Säugetiere eine Anomalie, denn die überwiegende Mehrheit der auf der Erde existierenden Tierarten ist so klein wie die Schnecken oder kleiner. Es ist fast so, als besetzte man, unabhängig von seinem jeweiligen Reich, eine umso wichtigere Nische, je kleiner man ist und je weiter unten auf dem Baum des Lebens man angesiedelt ist: Schnecken und Würmer erzeugen Erde, blaugrüne Algen Sauerstoff; die Säugetiere erscheinen da vergleichsweise verzichtbar, ein Ergebnis des zufälligen Verlaufs der Evolution über einen verschwenderisch langen Zeitraum.
Vor dreieinhalb Millionen Jahren, als das Leben auf der Erde seinen Anfang nahm, hatten die Schnecke und ich einen gemeinsamen Vorfahren, einen einfachen Wurm, aus dem im Lauf der Zeit zwei Gruppen von Lebewesen hervorgingen. Aus den Urmündern, bei denen sich in der Embryonalphase zunächst der Mund und dann der Anus herausbilden, gingen die Gastropoden und damit auch meine Schnecke hervor. Und aus den Neumündern, die die gleichen Attribute entwickeln, peinlicherweise allerdings in der umgekehrten Reihenfolge, nämlich erst den Anus und dann den Mund, gingen die Säugetiere hervor, darunter auch der Homo sapiens.
Die Schnecke und ich hatten beide Eingeweide, Herz und Lunge, wobei meine Lunge im Gegensatz zu ihrer aus zwei Flügeln bestand. Doch da endete die Ähnlichkeit auch schon. Wenn ich ihre ulkigen teleskopischen Augennasen, ihre bandartigen Zahnreihen, ihre schleimige Haut und ihr Gehäuse betrachtete, konnte ich kaum glauben, dass wir auf demselben Planeten entstanden sein sollten. 1862 schrieb Charles Darwin an den Geologen Charles Lyell: «Mir scheinen Säugetiere & Mollusken zu weit voneinander entfernt, um sie ernsthaft vergleichen zu können.»
Die Evolution einer Spezies ist nicht zuletzt durch ihre ganz eigene Geschichte viraler und bakterieller Krankheitserreger geprägt. Indem sie die zelluläre DNA umarrangieren, können Krankheitserreger Gene ein- und ausschalten und somit die Eigenschaften künftiger Generationen einer Spezies beeinflussen. Luis P. Villarreal, Direktor des Center für Virus Research, vertritt die These, dass selbst gewöhnliche, allem Anschein nach gutartige Viren die menschliche Kognition und Sozialisation beeinflusst haben könnten. Und auch der Virologe Thierry Heidmann bringt wie Villarreal die Entwicklung der Plazenta – ohne die wir Menschen Eier legen würden – mit Viren in Verbindung. Ich fragte mich, ob in meinem eigenen genetischen Code DNA für andere tierische Eigenschaften verborgen sein mochte. Wir alle haben Gene, die aus unerfindlichen Gründen «ausgeschaltet» sind; vielleicht wird die Wissenschaft eines Tages herausfinden, wie sich die entsprechenden Schalter umlegen lassen, und dann werden wir in der Lage sein, uns interessante tierische Eigenschaften auszusuchen: einen Schwanz, gestreiftes Fell, Flügel oder auch Gastropodenfühler.
Und wie, so fragte ich mich, hatte der mysteriöse Virus, der mich zu Fall gebracht hatte, das Leben in den Zellen meines Körpers verändert? Würde es jemals einen Schalter geben, den ich umlegen könnte, um auf einen Schlag meine Gesundheit wiederzuerlangen? Die Vorstellung war äußerst verlockend.
Ich fraß mich weiter durch meine verstaubte Mollusken-Fachliteratur und erfuhr, dass die Gastropoden – die achtzig Prozent der Mollusken ausmachen – eine der erfolgreichsten Gattungen überhaupt sind. Sie existieren seit einer halben Million Jahren und haben mehrere Massenaussterbeereignisse überlebt beziehungsweise sich danach von neuem entwickelt. Sie sind in fast jedem Lebensraum der Erde heimisch. Fünfunddreißigtausend heute existierende Arten von Landschnecken sind dokumentiert, zehntausende weitere noch nicht identifiziert. Die meisten von ihnen sind mikroskopisch klein, wie Ernest Ingersoll in seinem 1881 veröffentlichten Essay In a Snailery schreibt: «Manche [Arten von Schnecken] sind so klein, dass sie nicht einmal das ‹o› in
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