Geräusch einer Schnecke beim Essen
diesem Text verdecken würden.»
Mögen wir Menschen auch meinen, wir gäben auf diesem Planeten den Ton an – die Fakten sprechen eindeutig dagegen. Die bescheidene Schnecke und ihr Clan hinterlassen schon weit länger ihre (klebrigen) Spuren auf dieser Erde als wir jüngeren Lebewesen. Für mich war es offensichtlich, dass eigentlich die Gastropoden die Schlagzeilen der New York Times beherrschen und die Säugetiere, insbesondere der Mensch, auf die hinteren Seiten verbannt werden müssten. Andererseits würde meine Schnecke mit ihrer vielzahnigen Raspelzunge, ihrem Enzym zur Zelluloseverdauung und ihrem fehlenden Sehvermögen die New York Times vermutlich eher fressen als lesen.
Wie konnten die Landschnecken mit einem in Metern messbaren Streifgebiet und einer Fortbewegungsgeschwindigkeit von mehreren Zentimetern pro Minute die fünf Kontinente besiedeln? Wie sich zeigte, war es nicht nur meine Katze, die Schnelltransporte von Gastropoden durchführte. Der Malakologe – Weichtierforscher – Tim Pearce ist auf Schnecken spezialisiert. Er hat die nächtlichen Ausflüge einer Gruppe von Schnecken verfolgt, indem er jeweils einen Faden an ihrem Gehäuse befestigte. Eine der Schnecken wurde von einer Spitzmaus lebend siebenundzwanzig Meter weit transportiert und landete fast einen Meter tief unter der Erde in einem Bau.
Vor hundertfünfzig Millionen Jahren wurden die Vorfahren meiner Schnecke wahrscheinlich ab und zu unbeabsichtigt von fünfzig Tonnen schweren Dinosauriern irgendwohin getragen. Diese größten aller Reittiere sorgten vermutlich auch für wahre Schneckenfestmahle, denn aus Fossilienfunden geht hervor, dass Schnecken gern Dinosauriermist verzehrten. Im Zeitalter der nordamerikanischen Megafauna, die vor dreizehntausend Jahren endete, ließen sich Schnecken möglicherweise von laubfressenden Riesenfaultieren, Elefanten sowie von Löwen, Geparden und mächtigen Säbelzahntigern, den schnellsten ihrer Reittiere, durch die Gegend tragen.
Doch keine dieser Fortbewegungsmethoden erklärt, wie Landschnecken entlegene Inseln besiedeln konnten, eine Frage, die Charles Darwin schier verzweifeln ließ. Am 28. September 1856 schrieb er an den Naturforscher Philip Gosse: «Die Transportmittel… der Landmollusken stellen mich vor ein Rätsel.» Und ein paar Tage später erklärte er in einem Brief an seinen Cousin, den Naturforscher William Fox: «Kein Thema bereitet mir solche Mühe & Zweifel & Schwierigkeiten wie [ihre] Verbreitung… auf die oceanischen Inseln. – Die Landmollusken machen mich wahnsinnig.» Das taten sie offenbar wirklich, denn im folgenden Dezember klagte Darwin in einem Brief an den Botaniker Joseph Hooker: «Seit fünfzehn Monaten quälen & verfolgen mich die Landmollusken.»
Wie er später, nämlich 1859 in der Entstehung der Arten festhielt, «kam mir der Gedanke, daß Landschnecken, im Zustande des Winterschlafs und mit einem Deckel auf ihrer Schaalenmündung, in Spalten von Treibholz über ziemlich breite Seearme müßten geführt werden können.» Hier setzte er an, um seine Forschungen wie bewährt durch Experimente fortzuführen: Er füllte mehrere Behälter mit Meerwasser und besorgte sich eine Anzahl im Winterschlaf befindlicher Schnecken. Über eine von ihnen schreibt er:
Nachdem sie sich wieder zur Winterruhe eingerichtet hatte, legte ich sie noch zwanzig Tage lang in Seewasser, worauf sie sich wieder vollständig erholte. Während dieser Zeit hätte sie von einer Meeresströmung von mittlerer Geschwindigkeit in eine Entfernung von sechshundertsechzig geographischen Meilen fortgeführt werden können.
Sehr erleichtert angesichts dieser möglichen Erklärung, vertraute Darwin Joseph Hooker an: «Ich fühle mich, als wäre ein Gewicht von tausend Pfund von meinen Schultern genommen», schließt allerdings in der Entstehung der Arten: «Es ist indeß durchaus nicht wahrscheinlich, daß Landschnecken oft in dieser Weise transportirt worden sind; die Vogelfüße sind ein wahrscheinlicheres Transportmittel.»
Darwins Verbreitungstheorie erwies sich als richtig: Es kommt vor, dass Schnecken im Gefieder von Zugvögeln als blinde Passagiere weite Strecken zurücklegen. Für kürzere Flüge hängt sich eine kleine Schnecke auch mal an das Bein einer Biene oder an das Material, das ein Vogel für den Nestbau verwendet.
An einem Herbstblatt haftend, kann eine Schnecke vom Sturm davongeweht werden und auf ihrem fliegenden Teppich schließlich an einem fernen Ort wieder
Weitere Kostenlose Bücher