Gérards Heirat
Ohren.
Nach und nach hörte das Gesträuch auf zu knistern und der Lärm verminderte sich; die Stimmen wurden schwächer und von neuem herrschte tiefe Stille in der Schlucht; man vernahm wieder das helle Rauschen des Baches und das Zwitschern des Rotkehlchens, das, einen Augenblick verscheucht, wieder mutig seinen Gesang aufnahm.
Jetzt erst wagte Gérard Helenen anzublicken, welche, die Stirne in die Hände gepreßt, unbeweglich dasaß. Er erschrak über den tragischen Ausdruck ihres blassen Gesichts und seufzte schmerzlich auf.
»Ach,« flüsterte das junge Mädchen, »ich glaube, ich bin verloren!«
Der junge Mann betrachtete sie mit verstörter Miene undrang die Hände. »Und ich habe Sie zu Grunde gerichtet!« rief er, »diese erbärmliche Frau rächt sich an Ihnen dafür, daß ich ihre Tochter ausgeschlagen habe.«
Er ging am Bache auf und ab, verwünschte Frau Grandfief und stieß unzusammenhangende, wirre Worte aus. »Was soll aus uns werden?« sagte er endlich, »was sollen wir thun? Morgen wird die ganze Stadt alles wissen, und mein Vater wird es mir nie verzeihen.«
Aus all dieser Verwirrung entnahm Helene nur so viel, daß Gérard eine schreckliche Angst vor dem Chevalier hatte, und daß diese Furcht ihm die Fähigkeit zu denken raubte. Sie fühlte, sie müsse Mut haben für zwei, erhob sich und raffte ihr Malgeräte zusammen.
»Scheiden wir,« sagte sie traurig, »gehen Sie auf den Meierhof zurück und halten Sie sich einige Tage ganz ruhig.«
»Mich dort einschließen ohne Nachricht von Ihnen, niemals!« rief Gérard. »Ich würde mich langsam verzehren ... Ich gehe nach Juvigny zurück, um dem Sturme Trotz zu bieten.«
»Ich verbiete es Ihnen!« antwortete Helene in entschiedenem Ton. »Ihre Heftigkeit würde vollends alles verderben. Gehorchen Sie mir, wenn Sie mich lieben. Lassen Sie den Leuten fünf oder sechs Tage Zeit, Sie zu vergessen, bis Marius Ihnen schreibt ... Leben Sie wohl, denken Sie mein.«
Sie drückte Gérard rasch die Hand und entfernte sich in der Richtung nach Juvigny.
»Helene,« rief er trostlos, aber sie hörte ihn nicht mehr, und bald verschwand ihr helles Kleid, das noch für Augenblicke durchs Gebüsch schimmerte, bei einer Biegung des Fußpfades.
Sie kehrte auf dem kürzesten Wege nach Hause zurück, wo sie noch alles in Aufregung über das Mißgeschick von Marius fand. Toni und Benjamin erzählten, wie der Brudervon seinem Frühstück zurückgekommen sei und wie man ihn habe in sein Zimmer tragen müssen; aber Helene war zu unruhig, um dem Geschwätz der Kinder ein aufmerksames Ohr zu leihen. Während des Essens blieb sie schweigsam und wagte kaum Herrn Laheyrard anzublicken, dem man den neuesten Streich seines ältesten Sohnes verheimlicht hatte. Als man vom Tische aufstand, schützte sie Kopfschmerzen vor und flüchtete sich in ihr Zimmer. hier konnte sie ihrem Kummer den Lauf lassen und sich ausweinen. Was sollte sie jetzt thun? Morgen, vielleicht noch heute abend würde sich die Geschichte vom Höllengrund wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten, und natürlich würden auch einige mitleidige Seelen nicht verfehlen, Herrn von Seigneulles, vielleicht sogar Herrn Laheyrard davon in Kenntnis zu setzen. Die ohnehin schon schwierige Stellung des Schulrates in Juvigny, würde dann durch diesen Skandal noch mehr erschüttert, vielleicht unhaltbar werden. Ihre Thränen verdoppelten sich bei diesem Gedanken und auch die bösen Worte von Georginens Mutter klangen ihr aufs neue in den Ohren. »Jetzt ist sie kompromittiert und hat einen Grund, ihn zum Heiraten zu zwingen,« hatte Frau Grandfief gesagt. – Die Entrüstung, die sie über diese beleidigende Voraussetzung empfand, belebte ihren gesunkenen Mut wieder aufs neue.
»Nein,« flüsterte ihr empörter Stolz, »ich werde ihnen zeigen, daß ich trotz meiner Unbesonnenheit besser bin, als sie alle ...«
Nach und nach machte sich der Gedanke, in Paris eine Stelle als Lehrerin zu suchen, in ihrem Geist aufs neue geltend.
Der beständige Glückstaumel, der sich ihrer in den letzten vier Wochen bemächtigt, hatte alle Gedanken an die Abreise verdrängt; der Skandal im Höllengrund hatte nun aber jede Hoffnung auf Glück für immer zerstört. Sie gab sich keinen Täuschungen mehr hin und fühlte klar, daß ihre Liebe hoffnungslos war. Gérard würde nie wagen, den Kampfmit seinem Vater aufzunehmen, und wenn er es thäte, würde doch seine Thatkraft an der Halsstarrigkeit des alten Edelmannes erlahmen. Und wer konnte
Weitere Kostenlose Bücher