Geraubte Erinnerung
würde niemals zulassen, dass sie die Wunde vergaß, die diese Narbe verursacht hatte.
Sie drückte auf eine Taste und leitete die Signale von den Mikrofonen in Fieldings Haus in ihr Headset. Dann nahm sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, lehnte sich im Sessel zurück und blies eine blaue Dunstwolke an die Decke. Geli Bauer hasste vieles, doch am meisten hasste sie Warten.
4
W ir saßen schweigend nebeneinander, während ich den Acura zügig durch die Dämmerung steuerte. Um diese Zeit am Abend dauerte die Fahrt von meinem Vorort zu Andrew Fieldings Haus in Chapel Hill nicht lange. Rachel begriff nicht, warum ich sie aufgefordert hatte zu schweigen, doch das erwartete ich auch nicht von ihr. Als ich zum ersten Mal mit Project Trinity in Berührung gekommen war, hatten mich die allgegenwärtigen Sicherheitsmaßnahmen betäubt. Die übrigen Wissenschaftler, Fielding eingeschlossen, hatten schon früher an Projekten des Verteidigungsministeriums mitgearbeitet, kannten die bis ins Privatleben reichenden Vorschriften und Maßnahmen und akzeptierten sie als notwendiges Übel. Doch nach längerer Mitarbeit an diesem Projekt beschwerten sich selbst die Veteranen, dass wir etwas Beispielloses über uns ergehen lassen mussten. Die Überwachung war allumfassend und reichte weit über den Laborkomplex hinaus. Diesbezügliche Proteste wurden mit den lakonischen Worten abgeschmettert, dass die Wissenschaftler des Manhattan Projects damals gezwungen gewesen waren, hinter Stacheldraht zu leben, um die Sicherheit »des Geräts« – der ersten Atombombe – nicht zu beeinträchtigen. Die Freiheit, in der wir lebten, ließ man uns wissen, habe ihren Preis.
Fielding fand sich nicht damit ab. Fast wöchentlich gab es willkürliche Tests mit einem Lügendetektor, und die Überwachung reichte bis in unsere Wohnungen. Bevor ich an diesem Tag mit meiner Videoaufzeichnung anfangen konnte, hatte ich stecknadelgroße Löcher in meinen Wänden zuschmieren müssen, indenen Mikrofone steckten. Fielding hatte sie mithilfe eines speziellen Scanners entdeckt, den er sich zu Hause gebastelt hatte, und die winzigen Wanzen mit kleinen Stecknadeln markiert. Er hatte eine Art Hobby daraus gemacht, der Überwachung durch Trinity zu entgehen. Er hatte mich gewarnt, dass es unmöglich sei, in einem unserer Wagen ein vertrauliches Gespräch zu führen. Automobile waren leicht zu verwanzen, hatte er gesagt, und selbst »saubere« Fahrzeuge konnten mithilfe von Hightech-Richtmikrofonen aus der Ferne belauscht werden. Das Katz-und-Maus-Spiel des Engländers mit der NSA hatte mich damals amüsiert, doch ich zweifelte keine Sekunde daran, wer in diesem Spiel zuletzt gelacht hatte.
Ich blickte zu Rachel neben mir. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit ihr zusammen in einem Wagen zu sitzen. In den fünf Jahren seit Karens Tod hatte ich Beziehungen zu zwei Frauen gehabt, beide Male vor meiner Versetzung zum Project Trinity. Meine Zeit mit Rachel war keine »Beziehung« im romantischen Sinn. Zwei Stunden die Woche in den vergangenen drei Monaten hatte ich mit ihr zusammen in einem Zimmer gesessen und über den beunruhigendsten Aspekt meines Lebens gesprochen – meine Träume. Durch ihre Fragen und Interpretationen hatte sie mir vermutlich mehr über sich selbst enthüllt, als sie von mir erfahren hatte, und doch blieb vieles verborgen.
Sie war dem Ruf an die Duke University von der New York Presbyterian gefolgt, wo sie einen kleinen Kreis von Assistenzärzten in jungianischer Analyse unterrichtete, einer sterbenden Kunst in der Welt moderner pharmakologischer Psychiatrie. Außerdem betreute sie Privatpatienten und betrieb Forschung auf dem Gebiet der Psychiatrie. Nach zwei Jahren Einsiedlerlebens bei Trinity hätte ich den Kontakt mit jeder intelligenten Frau als provokative Erfahrung empfunden, doch Rachel hatte weit mehr zu bieten als Intelligenz. Wenn sie in ihrem Sessel saß, in makelloser Kleidung, die dunklen Haare von einem französischen Band gehalten, und mich unverwandt beobachtete, schien es, als blickte sie in Tiefen meiner Seele, die ich selbst noch niegesehen hatte. Manchmal schien ihr Gesicht, besonders die Augen, das ganze Zimmer auszufüllen. Ihre Augen waren die Umwelt, in der ich lebte, die Zuhörer, denen ich beichtete, das Gericht, dem ich mich unterwarf. Doch diese Augen waren bedächtig mit ihrem Urteil, wenigstens zu Anfang. Sie stellte mir Fragen zu manchen Bildern, dann Fragen zu den Antworten, die ich gab. Hin und wieder bot sie
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