Geraubte Erinnerung
suchen Sie in diesem Ozean?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch, Sie wissen es.«
»Ich suche nicht nach Karen oder Zooey.«
»David.« Eine Spur von Verärgerung in ihrer Stimme. »Wenn Sie nicht glauben, dass diese Bilder symbolisch sind, warum sind Sie dann hier?«
Ich schlug die Augen auf und blickte in ihr gefasstes Gesicht. Ein Vorhang aus Professionalität verschleierte ihr Mitgefühl,doch ich sah die Wahrheit. Sie projizierte ihre Verlustgefühle in mich.
»Ich bin hier, weil ich alleine keine Antworten finde«, sagte ich. »Weil ich einen ganzen Berg von Büchern gelesen habe, ohne dass es mir weitergeholfen hätte.«
Rachel nickte ernst. »Wie kommt es, dass Sie sich so genau an Ihre Halluzinationen erinnern? Schreiben Sie Ihre Träume auf?«
»Nein. Sie sind nicht wie normale Träume, die einem umso mehr entgleiten, je stärker man versucht, sich daran zu erinnern. Diese Träume sind unauslöschlich. Ist das nicht eine Eigenart narkoleptischer Träume?«
»Ja«, sagte sie leise. »Zugegeben. Karen und Zooey sind im Wasser gestorben. Beide sind ertrunken. Karen hat wahrscheinlich stark an den Händen geblutet – und am Kopf, wo sie gegen das Lenkrad geprallt ist. Damit hätten wir eine Erklärung für rotes Wasser.« Rachel kippte ihren Stuhl ein Stück nach hinten und betrachtete die kassettierte Decke. »Diese Halluzinationen … Personen kommen nicht darin vor. Trotzdem durchleben Sie starke emotionale Reaktionen. Sie haben von Kampf gesprochen. Waren Sie je in einer Schlacht?«
»Nein.«
»Aber Sie wissen, dass Karen gekämpft hat, um Zooey zu retten. Sie hat darum gekämpft, am Leben zu bleiben. Das haben Sie mir erzählt.«
Ich schloss die Augen. Ich wurde nicht gern daran erinnert, doch manchmal konnte ich die Gedanken einfach nicht verdrängen. Als Karens Wagen in den Teich gedrängt worden war, war er auf dem Dach gelandet und in dreißig Zentimeter tiefen, weichen Schlamm gesunken. Die elektrischen Fensterheber hatten einen Kurzschluss, und die Türen ließen sich nicht mehr öffnen. Gebrochene Knochen an Karens Händen und Füßen hatten die verzweifelte Wildheit erkennen lassen, mit der sie versucht hatte, die Fenster zu zerschlagen. Sie war eine kleine Frau gewesen und körperlich nicht besonders stark, doch sie hatte nichtaufgegeben. Ein Sanitäter erzählte mir später, dass er sie auf dem Rücksitz gefunden hatte, nachdem sie den Wagen aus dem Schlamm gezogen und die Türen aufgebrochen hatten. Karen hatte einen Arm um Zooey geschlungen, der andere hatte schlaff herabgehangen, die Hand zerschmettert, die Haut über den Knöcheln abgeplatzt. Es war offensichtlich, was sich ereignet hatte. Als das Wasser in den Wagen eingedrungen war und Karen verzweifelt versucht hatte, die Fenster einzuschlagen, war Zooey in Panik geraten. Jeder wäre in Panik geraten, besonders ein Kind. An dieser Stelle hätten manche Mütter weiter gekämpft, während ihre Kinder vor Angst und Entsetzen schrien. Andere hätten ihre Kinder getröstet und gebetet, dass rechtzeitig Hilfe kommt. Doch Karen hatte Zooey an sich gezogen, hatte ihr versprochen, dass alles gut würde und mit den Füßen bis zum letzten Atemzug weiter gekämpft, um dem nassen Sarg zu entkommen. Sich an ihre Tochter zu klammern, während sie den Erstickungstod starb, zeugte von einer Liebe, die stärker war als jede Angst, und dieses Wissen hatte geholfen, mir ein wenig Frieden zu bringen.
»Grüne Wolken und ein roter Ozean haben überhaupt nichts mit einem Autounfall zu tun, der fünf Jahre zurückliegt«, widersprach ich.
»Nein? Dann sollten Sie mir mehr über Ihre Kindheit erzählen.«
»Das ist irrelevant.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen«, beharrte Rachel.
»Doch. Ich weiß es.«
»Dann erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit.«
»Ich lehre medizinische Ethik.«
»Sie haben sich vor mehr als einem Jahr beurlauben lassen.«
Ich riss den Kopf hoch und starrte ihr in die Augen. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es gehört. Im Hospital.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ich erinnere mich nicht. Ich habe es zufällig gehört, glaube ich. Im Ärztestand sind Sie ein sehr bekannter Mann,wussten Sie das nicht? Die Ärzte an der Duke beziehen sich ständig auf Ihr Buch. Genau wie an der Presbyterian in New York. Also, stimmt es? Haben Sie sich beurlauben lassen oder nicht?«
»Bleiben wir bei meinen Träumen. Es ist sicherer, für uns beide.«
»Sicherer? Inwiefern?«
Ich antwortete nicht.
Bis zur nächsten Sitzung hatten
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