Geraubte Erinnerung
Frau mit einem Behälter an einem Seil. Ich fragte sie, ob sie mir ein wenig Wasser ziehen könne. Sie schien überrascht, dass ich mit ihr redete, und ich spürte, dass wir verschiedenen Stämmen angehörten. Ich sagte ihr, dass das Wasser im Brunnen ihren Durst nicht stillen könne. Wir unterhielten uns eine Weile, und bald schaute sie mich mit bewundernden Blicken an.
»Ich sehe, du bist ein Prophet«, sagte sie. »Du siehst viele Dinge, die uns verborgen sind.«
»Ich bin kein Prophet«, erklärte ich.
Sie beobachtete mich eine Zeit lang schweigend. Dann sagte sie: »Die Leute reden von einem Messias, der eines Tages kommen und uns Dinge sagen wird. Was hältst du davon?«
Ich sah zu Boden, doch Worte voll tiefer Überzeugung kamen mir über die Lippen. Ich hob den Blick und sah die Frau an. »Ich, der ich zu dir spreche, bin dieser Messias.«
Die Frau lachte nicht. Stattdessen kniete sie nieder und berührte mein Knie. Dann ging sie davon, wobei sie sich immer wieder nach mir umdrehte.
Als ich aus diesem Traum erwachte, war ich schweißgebadet. Ich verzichtete darauf, zum Telefon zu greifen und Rachel um eine Extrasitzung zu bitten. Ich sah keinen Sinn darin. Ich glaubte nicht mehr, dass irgendeine Traumdeutung mir helfen konnte, weil ich nicht träumte. Ich erinnerte mich.
»Worüber denken Sie nach?«, fragte Rachel auf dem Beifahrersitz.
Wir näherten uns dem Campus der University of North Carolina. »Wie Sie hierher gekommen sind.«
Sie rutschte unruhig auf dem Sitz und schenkte mir einen besorgten Blick. »Ich bin hier, weil Sie mir nicht gleichgültig sind. Weil Sie drei Sitzungen versäumt haben, und das hätten Sie bestimmt nicht getan, hätten die Dinge sich nicht zum Schlechteren entwickelt. Ich denke, Ihre Halluzinationen haben sich erneut verändert, und sie haben Ihnen große Angst eingejagt.«
Ich packte das Lenkrad fester, doch ich schwieg. Irgendwo lauschte die NSA.
»Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Und auch nicht der Ort.«
Das University Theater lag ein Stück voraus zur Linken. Zu unserer Rechten, in den Bäumen unterhalb der Straße, befand sich das Forest Amphitheater. Ich bog scharf rechts ab und ließ den Wagen einen dunklen Hügel hinunterrollen. Die Straße erstreckte sich zwischen zwei Reihen stattlicher Häuser, eine Gegend, in der fest angestellte Professoren und wohlhabende junge Akademiker wohnten. Fielding hatte in einem kleinen, zweistöckigen Haus gelebt, das ein gutes Stück von der Straße zurück stand. Perfekt für ihn und seine chinesische Frau, die nach Amerika zu bringen er stets gehofft hatte.
»Wo sind wir?«, fragte Rachel.
»Fieldings Haus ist gleich da vorn.«
Ich nickte in die Richtung, wo es stehen musste, doch dort war alles dunkel. Ich hatte erwartet, dass sämtliche Lichter brannten, genau wie in meinem eigenen Haus, nachdem ich Karen und Zooey verloren hatte. Für einen Augenblick stieg Panik in mir auf, eine dunkle Vorahnung, als würde ich mich in einem dieser Konspirationsfilme aus den Siebzigern bewegen, wo man vor einem bekannten Haus ankommt und feststellt, dass es nicht mehr bewohnt ist. Oder schlimmer noch, dass dort eine gänzlich unbekannte Familie lebt.
Auf der Veranda, dreißig Meter von der Straße weg,flammte ein Licht auf. Lu Li schien hinter einem dunklen Fenster gestanden und gewartet zu haben. Ich drehte den Kopf und suchte die Straße nach verdächtigen Fahrzeugen ab. Es gelang mir relativ häufig, die Überwachungswagen der NSA zu entdecken, die mich beschatteten. Entweder war es den Teams egal, dass wir sie sahen, oder sie wollten uns wissen lassen, dass wir beobachtet wurden. Diesmal bemerkte ich nichts Ungewöhnliches, doch ich spürte, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Vielleicht gab es Beobachter, die nicht gesehen werden wollten. Ich bog in Fieldings Auffahrt ein und stellte den Wagen vor dem geschlossenen Garagentor ab.
»Hier wohnt ein Nobelpreisträger?«, fragte Rachel und deutete auf das bescheidene Haus.
»Wohnte«, verbesserte ich sie. »Warten Sie hier. Ich gehe allein zur Tür.«
»Um Himmels willen, David!«, begehrte sie auf. »Das ist doch lächerlich! Geben Sie einfach zu, dass alles nur eine Scharade ist, und wir gehen einen Kaffee trinken und reden darüber.«
Ich packte sie beim Arm und sah ihr fest in die Augen. »Jetzt hören Sie mir einmal zu, verdammt! Wahrscheinlich ist alles in Ordnung, aber wir machen es trotzdem so. Ich werde pfeifen, wenn die Luft rein ist und Sie kommen
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