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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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meine Träume sich erneut verändert.
    »Ich sehe auf die Erde hinunter. Ich schwebe im Weltraum. Es ist der schönste Anblick, den ich je gesehen habe. Blau und grün, mit wirbelnden weißen Wolken. Es ist ein lebendiges Ding, ein vollkommenes, geschlossenes System. Ich tauche durch die Wolken, ein Hundert-Meilen-Kopfsprung hinab in das tiefblaue Meer, in dem es von Leben wimmelt. Gigantische Moleküle, vielzellige Lebewesen, Quallen, Tintenfische, Schlangen, Haie. Auch das Land ist voller Leben. Ein Dschungel. Eine Symphonie aus Grün. An der Küste springen Fische aus den Wellen, und ihnen wachsen Beine. Merkwürdige Krabben huschen über den Sand und verwandeln sich in Tiere, die ich noch nie gesehen habe. Die Zeit vergeht rasend schnell. Als würde die Evolution mit millionenfacher Geschwindigkeit ablaufen. Dinosaurier verwandeln sich in Vögel, aus primitiven Nagern entstehen Primaten. Die Primaten verlieren ihr Fell und werden zu Frühmenschenformen. Eis überdeckt die Dschungel und schmilzt wieder, und zurück bleibt eine Savanne. Zwanzigtausend Jahre vergehen in einem einzigen Atemzug …«
    »Langsam, langsam«, empfahl Rachel. »Sie sind ja ganz aufgeregt.«
    »Wie könnte es anders sein, wenn ich das alles sehe?«
    »Sie wissen die Antwort. Ihr Verstand kann jedes vorstellbare Bild erschaffen und es zur Wirklichkeit machen. Dieses Bild der Erde vom Weltraum aus ist ein Symbol moderner Fotografie. Es bewegt jeden, der es betrachtet, und Sie haben es seit Ihrer Kindheit sicherlich Dutzende Male gesehen.«
    »Mein Verstand kann Tiere entstehen lassen, die ich noch nie gesehen habe? Realistisch aussehende Tiere?«
    »Selbstverständlich. Sie kennen die Gemälde von Hieronymus Bosch. Und ich habe auch schon Zeitrafferaufnahmen der Evolution im Fernsehen gesehen, die genau auf Ihre Beschreibung passen. Früher gab es im Life Magazine Zeichnungen über ›Die Entstehung des Menschen‹ und dergleichen. Die Frage ist, warum sehen Sie all diese Dinge?«
    »Um das herauszufinden, bin ich hier.«
    »Sind Sie in dieser surrealen Landschaft anwesend?«
    »Nein.«
    »Was fühlen Sie?«
    »Ich suche immer noch nach etwas.«
    »Nach was?«
    »Ich weiß es nicht. Ich bin wie ein Vogel, der die Erde und das Meer nach … nach irgendetwas absucht.«
    »Sind Sie in Ihrem Traum ein Vogel?«
    Sie klang hoffnungsvoll. Vögel schienen im Lexikon der Traumdeutung etwas darzustellen. »Nein«, antwortete ich.
    »Was sind Sie dann?«
    »Nichts. Ich weiß es nicht. Ein Augenpaar.«
    »Ein Beobachter also.«
    »Ja. Ein körperloser Beobachter. T. J. Eckleburg.«
    »Wer?«
    »Nichts. So heißt ein Stück von Scott Fitzgerald.«
    »Oh. Ich erinnere mich.« Sie steckte das Ende ihres Stifts in den Mund und kaute darauf herum. Eine ungewöhnliche Geste bei ihr. »Haben Sie eine Vermutung, warum Sie all das sehen?«
    »Ja.« Ich wusste, dass meine nächsten Worte sie überraschen würden. »Ich glaube, jemand zeigt sie mir.«
    Ihre Augen weiteten sich in theatralischer Überraschung. »Ach, tatsächlich?«
    »Ja, tatsächlich.«
    »Und wer zeigt Ihnen diese Bilder?«
    »Ich habe keine Ahnung. Warum glauben Sie, dass ich sie sehe?«
    Sie neigte den Kopf von einer Seite zur anderen. Ich konnte beinahe sehen, wie ihre Neuronen feuerten und meine Worte durch die Filter schoben, die ihre Ausbildung und Erfahrung in ihrem Hirn geschaffen hatten. »Evolution bedeutet Veränderung«, sagte sie schließlich. »Sie sehen Veränderungen, jedoch mit unnatürlich großer Geschwindigkeit. Unkontrollierbare Veränderungen. Ich denke, es könnte etwas mit Ihrer Arbeit zu tun haben.«
    Da könntest du Recht haben, dachte ich, sagte aber nichts. Ich nickte und erzählte weiter. Mein Schweigen war der einzige Schutz, den ich ihr bieten konnte. Am Ende spielte es wahrscheinlich keine Rolle, denn das Thema Evolution erstarb, und was danach meine Träume dominierte, erschütterte mich bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele.
    In meinen neuen Träumen kamen Menschen vor. Sie konnten mich nicht sehen, und ich sah nur kurze Streiflichter von ihnen. Es war, als würde ich einen beschädigten Film anschauen, dessen einzelne Szenen willkürlich aneinander geklebt worden waren. Eine Frau mit einem Baby beim Spazieren. Ein Mann, der Wasser aus einem Brunnen zog. Ein Soldat in einer Rüstung mit einem Kurzschwert – ein gladius, wie ich in Mrs Whaleys Lateinunterricht in der achten Klasse gelernt hatte. Ein römischer Legionär. Das war mein erster wirklicher

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