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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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davon. Ich bewege mich unter Erwachsenen. Ihre Gesichter sagen: Dieses Kind ist nicht wie die anderen Kinder. Ein Mann mit wilden Augen steht bis zu den Hüften im Wasser. Männer und Frauen stehen in einer Schlange und warten, bis sie an der Reihe sind, untergetaucht zu werden, während andere hustend und spuckend und mit weit aufgerissenen Augen wieder aus dem Wasser kommen.
    Manchmal besaßen meine Träume keine Logik, sondern bestanden aus zusammenhanglosen Fragmenten. Wenn schließlich die Logik zurückkehrte, machte sie mir Angst.
    Ich sitze am Bett eines kleinen Jungen. Er kann sich nicht bewegen. Seine Augen sind geschlossen. Er ist seit zwei Tagen bewusstlos. Seine Mutter und seine Tante sitzen bei mir. Sie bringen Essen, kühles Wasser und Öl, um den Jungen zu salben. Ich spreche dem Jungen leise ins Ohr. Ich sage den Frauen, sie sollen seine Hände halten. Dann beuge ich mich vor und sage den Namen des Jungen. Er hat die Augen fest geschlossen und Schaum vor den Lippen. Als er seinen Namen hört, öffnet er die Augen, und sie strahlen, als er seine Mutter sieht. Seine Mutter ächzt, dann schreit sie, dass er die Hand bewegt hat. Sie hebt ihn hoch, und er umarmt sie. Die Frauen weinen vor Freude …
    Ich esse mit einer Gruppe von Frauen. Oliven und Fladenbrot. Einige Frauen weichen meinen Blicken aus. Nach dem Mahl führen sie mich in einen Schlafraum, wo ein schwangeres Mädchen auf dem Bett liegt. Sie berichten mir, dass das Baby bereits zu lange in ihr ist. Die Wehen haben noch nicht eingesetzt. Sie fürchten, das Kind könnte tot sein. Ich bitte die Frauen zu gehen. Die junge Mutter hat Angst vor mir. Ich beruhige sie mit leisen Worten, dann hebe ich die Decke an und lege meine Hände auf ihren Leib. Er ist aufgebläht und straff wie eine Trommel. Ich lasse meine Hände lange Zeit dort ruhen, während ich sie leise dränge und zu ihr spreche. Ich kann nicht verstehen, was ich sage. Es ist ein leiser Singsang. Nach einiger Zeit öffnet sie den Mund. Sie hat einen Tritt gespürt. Sie schreit nach denanderen Frauen. »Mein Kind lebt!« Die Frauen legen ihre Hände auf mich, versuchen mich zu berühren, als besäße ich unsichtbare Kräfte. »Er ist der Eine, er ist der Eine!«, rufen sie.
    »Das sind Geschichten aus der Bibel«, sagte Rachel. »Millionen Schulkinder kennen sie. Daran ist nichts Ungewöhnliches.«
    »Ich habe das Neue Testament gelesen«, berichtete ich. »Nirgendwo steht, dass Jesus einen kleinen Jungen aus dem Koma erweckt hat. Oder dass er allein mit Frauen ein Mahl eingenommen und anschließend bei einer Schwangeren die Wehen eingeleitet hat.«
    »Aber es sind Bilder von Heilungen! Sie sind Arzt. Ihr Unterbewusstsein scheint Ihr Bild von Jesus mit Ihrem Bild von sich selbst zu verschmelzen. Oder umgekehrt. Vielleicht ist Ihre Arbeit wirklich das Problem. Haben Sie sich vom Gebiet der heilenden Medizin entfernt? Ich weiß von Ärzten, die in Depressionen verfallen sind, nachdem sie die Behandlung von Patienten der Forschung wegen aufgegeben haben. Vielleicht ist es etwas in dieser Art?«
    Sie hatte richtig geraten, dass ich die Behandlung von Patienten aufgegeben hatte, doch meine leuchtenden Träume waren bestimmt keine nostalgische Erinnerung an meine Zeit im weißen Kittel.
    »Es gibt noch eine weitere Möglichkeit«, schlug sie vor. »Eine, die mehr mit meiner ursprünglichen Interpretation einhergeht. Diese Bilder von göttlicher Heilung könnten unterbewusste Wünsche sein, Karen und Zooey zurückzubringen. Denken Sie darüber nach. Was waren die beiden bemerkenswertesten Wunder, die Jesus bewirkt hat?«
    Ich nickte zögernd. »Er hat Lazarus von den Toten auferweckt …«
    »Richtig. Und außerdem ein kleines Mädchen, wenn ich mich nicht irre.«
    »Ja. Aber ich glaube nicht, dass die Träume etwas damit zu tun haben.«
    Rachel lächelte in unendlicher Geduld. »Nun, eine Sache ist jedenfalls sicher. Irgendwann wird Ihr Unterbewusstsein klar zum Ausdruck bringen, was es Ihnen sagen will.«
    Wie sich herausstellte, war dies unsere letzte Sitzung, weil sich in jener Nacht meine Träume erneut änderten. Und ich hatte nicht die Absicht, Rachel zu erzählen, was ich nun träumte.
    Der neue Traum war klarer als alle, die ich vorher geträumt hatte, und obwohl ich in einer mir unbekannten Sprache redete, verstand ich meine Worte. Ich ging über eine unbefestigte Straße. Ich kam an einen Brunnen. Das Wasser stand tief, und ich hatte nichts, um es zu heben. Nach einer Weile kam eine

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