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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Hinweis darauf, dass meine Träume keine zufällige Abfolge von Bildern darstellten, sondern Szenen aus einer speziellen Epoche. Ich sah Ochsen vor Pflugscharen. Eine junge Frau, die ihren Körper auf der Straße anbot. Männer, die Geld tauschten. Goldene und kupferne Münzen mit dem gebieterischen Profil eines Kaisers und einem Namen darauf. Tiberius. Der Name rührte an etwas in meinem Bewusstsein, also sah ich im Internet nach. Tiberius, Nachfolger des Augustus. Tiberius war ein ehemaliger Feldherr, dessen Legionen einen Großteil seiner Herrschaftszeit in Germanien gekämpft hatten. Eines der wenigen bedeutsamen Ereignisse während seiner Amtszeit – vom Standpunkt der Geschichte ausbetrachtet – war die Kreuzigung eines jüdischen Zimmermanns, der behauptet hatte, König der Juden zu sein.
    »War Ihr Vater streng religiös?«, fragte Rachel, nachdem sie von den neuen Bildern erfahren hatte.
    »Nein. Er war … er betrachtete die Welt auf eine fundamentalere Weise.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Das ist irrelevant.«
    Ein verärgertes Seufzen. »Und Ihre Mutter? War sie religiös?«
    »Sie glaubte an etwas, das größer war als die Menschheit, doch sie gehörte keiner Religionsgemeinschaft an.«
    »Also wurden Sie als Kind nicht religiös indoktriniert?«
    »Ein paar Jahre Sonntagsschule. Es hat nicht vorgehalten.«
    »Welche Glaubensrichtung?«
    »Methodist. Es war die Kirche, die unserem Haus am nächsten lag.«
    »Haben Sie Filme über das Leben Jesus Christi gesehen?«
    »Möglich. Ich erinnere mich nicht.«
    »Sie sind in Oak Ridge, Tennessee aufgewachsen, richtig? Ich halte es für sehr wahrscheinlich. Und natürlich haben wir all die großartigen Bibelverfilmungen aus den fünfziger Jahren gesehen. Die zehn Gebote. Ben Hur. Und so weiter.«
    »Was wollen Sie mir sagen?«
    »Nur dass die Grundlagen für diese Halluzinationen seit vielen Jahren in Ihrem Unterbewusstsein geschlummert haben. Sie sind in uns allen. Doch Ihre Träume scheinen sich auf irgendetwas hin zu bewegen. Und dieses Etwas ist möglicherweise Jesus von Nazareth.«
    »Hatten Sie früher schon mit ähnlichen Träumen zu tun?«, fragte ich.
    »Selbstverständlich. Viele Menschen träumen von Jesus. Von persönlichen Begegnungen mit ihm, von Nachrichten, die er ihnen überbringt. Doch Ihre Träume weisen einen gewissen zielgerichteten Fortschritt auf, und sie besitzen eine naturalistischeFärbung im Gegensatz zu der Wirrnis obsessiver Fantasien. Außerdem behaupten Sie, Atheist zu sein. Oder zumindest Agnostiker. Ich bin sehr gespannt darauf, wohin das alles führt.«
    Ich schätzte ihr Interesse, doch ich war es Leid, auf Antworten zu warten. »Was hat das alles Ihrer Meinung nach zu bedeuten ?«
    Sie schürzte die Lippen; dann schüttelte sie den Kopf. »Ich bin nicht mehr sicher, ob Ihre Träume mit dem Tod Ihrer Frau und Ihrer Tochter zu tun haben. Die Wahrheit ist, ich weiß einfach nicht genug über Ihr Leben, um eine fundierte Bewertung abgeben zu können.«
    Wir waren in einer Pattsituation angelangt. Ich war immer noch der Meinung, dass meine Vergangenheit nichts mit meinen Träumen zu tun hatte.
    Im Verlauf der nächsten Tage klärten sich die Filmschnipsel in meinem Kopf nach und nach, und bestimmte Charaktere traten immer wieder auf. Die Gesichter, die ich sah, wurden vertrauter, fast wie Freunde, dann sogar wie Familienangehörige. In mir wuchs das Gefühl, dass ich mich an diese Gesichter erinnerte, und zwar nicht allein aus vergangenen Träumen. Ich beschrieb sie Rachel, so gut ich konnte.
    Ich sitze mitten in einem Kreis, und gespannte, bärtige Gesichter beobachten mich. Ich weiß, dass ich spreche, weil sie offensichtlich meinen Worten lauschen, doch ich kann sie selbst nicht hören.
    Ich sehe das Gesicht einer Frau, engelgleich und doch gewöhnlich, und ein Augenpaar, das ich kenne wie die Augen meiner Mutter. Sie gehören nicht meiner Mutter, jedenfalls nicht der Mutter, die mich in Oak Ridge aufgezogen hat. Trotzdem betrachten sie mich voller unendlicher Liebe. Ein bärtiger Mann steht hinter der Frau und sieht mich mit Vaterstolz an. Mein Vater war sein Leben lang stets glatt rasiert …
    Ich sehe Esel … eine Dattelpalme. Nackte Kinder. Einen braunen Fluss. Ich spüre den kalten, durchdringenden Schock des Untertauchens, das Trommeln meiner Füße auf Sand.
    Ich sehe ein junges Mädchen, wunderschön und dunkelhaarig,das sich auf die Zehenspitzen stellt, um mich zu küssen. Dann errötet es und rennt

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