Geraubte Erinnerung
»Ausfallerscheinungen« bestand nicht die geringste Hoffnung, dass ich allein den kollektiven Willen zur Fortsetzung des Projekts aufhalten konnte. Ohne einen Beweis, dass ein faules Spiel getrieben worden war, würde Project Trinity fortgesetzt werden.
Die Schlacht würde in wenigen Minuten beginnen, nach ein paar leeren Worten des Bedauerns über Fieldings unerwarteten Tod. Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich zum Konferenzzimmer ging.
Der Raum war leer.
Ich war noch nie als Erster bei einem Meeting gewesen. Die übrigen Leiter des Projekts waren zwanghaft pünktlich. Ich nahm mir einen Kaffee aus der großen Thermoskanne auf dem Servierwagen und setzte mich ans hintere Ende des langen Tisches, während ich versuchte, mich zu beruhigen.
Wo steckten die anderen? Beobachteten sie mich etwa vom Sicherheitsraum aus? Wo hatten sie die Kamera versteckt, falls es eine gab? Hinter einem Bild? Zu meiner Rechten hing eine seltene Schwarzweiß-Fotografie der wichtigsten Physiker desManhattan Project: Oppenheimer, Szilard, Fermi, Wigner, Edward Teller. Sie standen in einer gut gelaunten Traube vor dem Hintergrund der Oscura Mountains in New Mexico, Giganten der Wissenschaft, ein jeder bestimmt für Ruhm oder Schande, je nachdem, welchen Standpunkt man vertrat. Einige, wie der hakennasige Teller, waren später mit den höchsten Ehren überhäuft worden. Andere hatten nicht so viel Glück gehabt. Oppenheimer war von kleingeistigen, unbedeutenden Männern wegen »kommunistischer Umtriebe« die Erlaubnis zur Arbeit an geheimen Projekten entzogen worden, und er führte nur einen Schatten des Lebens, das er sonst vielleicht gehabt hätte. Doch im Jahre 1944 standen sie alle beieinander, in dunklen europäischen Anzügen vor dem grellweißen Sand der Wüste. Sie blickten auf den Konferenztisch von Trinity herab wie Schutzheilige, und in ihren Augen leuchtete eine unergründliche Mischung aus Humor, Bescheidenheit und hart erarbeiteter Weisheit. Der einzige Mitarbeiter von Trinity, der über diese Charaktereigenschaften verfügt hatte, war gestern in seinem Büro gestorben.
Aus dem Korridor drangen Stimmen in den Konferenzraum. Ich richtete mich in meinem Sessel auf, als meine Kollegen nach und nach mit einer erzwungenen Aura von Gelassenheit hereinkamen. Ich hatte das Gefühl, als wären sie soeben aus einer privaten Besprechung gekommen, deren einziger Tagesordnungspunkt gewesen war, wie man mich »behandeln« sollte.
Zuerst kam Jutta Klein, die einzige Frau des Teams. Sie leitete die wissenschaftliche Forschungsabteilung eines großen deutschen Elektrokonzerns und besaß ebenfalls einen Nobelpreis in Physik. Jutta Klein war für die Dauer des Projekts an Trinity ausgeliehen worden. Mithilfe von Fielding und einem Team von Ingenieuren der General Electric hatte sie das Super-MRI der vierten Generation entworfen und konstruiert. Nun beaufsichtigte sie den reibungslosen Betrieb der temperamentvollen Riesenapparatur.
»Guten Morgen«, sagte sie steif auf Deutsch und nahm rechtsvon mir Platz. Ihrem matronenhaften Gesicht war keinerlei Regung anzusehen.
»Morgen«, erwiderte ich, ebenfalls auf Deutsch.
Als Nächster kam Ravi Nara durch die Tür. Er setzte sich drei Plätze weit von mir weg und unterstrich die Distanz, die in letzter Zeit unsere Beziehung trübte. Der junge indische Neurologe hatte einen Schokoladendoughnut in der freien braunen Hand. Die rechte steckte in einem Gipsverband. Vor vier Tagen hatte er einen Kaffeebecher aus Metall mit in den Super-MRI-Raum genommen und auf einen Tresen gestellt. Als Klein die Magnete für einen Test an einem Schimpansen eingeschaltet hatte, war der Becher durch den Raum geflogen und hatte Naras Arm gegen das Gehäuse des Geräts geschlagen. Nara hatte sich die Speiche gebrochen. Klein hatte ihm gesagt, er hätte noch Glück gehabt. An dem Tag, als das MRI zum ersten Mal eingeschaltet worden sei, wäre eine Technikerin durch eine metallische EKG-Karte getötet worden, die sie gegen das Gerät geworfen und ihren Schädel zerquetscht hätte.
»Guten Morgen, David.«
Ich blickte auf und bemerkte die schlanke Gestalt von John Skow, der wie üblich einen teuren Anzug von Brooks Brothers trug. Skow nahm den Platz am Kopfende des Konferenztisches ein. Er war Deputy Director bei der NSA und Amerikas führende Kapazität, was Informationskriegführung anging. Darüber hinaus war Skow Titulardirektor von Project Trinity, auch wenn es Peter Godin war, der die Richtung und
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