Geraubte Erinnerung
als bestünde es nur aus Haut und Knochen. Seine Haare waren fast völlig verschwunden.
An diesem Tag sah Godin aus, als würde er zusammenbrechen, bevor er seinen Platz erreichte. Er hatte mir verraten, dass sein Körper sich bei kreativem Stress stets dramatisch veränderte. Godin arbeitete häufig fünfzig, sechzig Stunden am Stück, ohne auch nur ein Nickerchen zu machen, und obwohl er wusste, dass es ihn Jahre seines Lebens kosten würde, war es in seinen Augen ein gerechter Preis für das, was er in seiner irdischen Laufbahn erreicht hatte.
Der Blick aus seinen hellblauen Augen schweifte durch den Raum und blieb länger auf mir haften als auf den anderen, bevor er grüßend nickte und sich auf den freien Platz neben Skow setzte.
»Da nun endlich alle hier sind«, begann Skow mit feierlicher Stimme, »wäre es wohl nachlässig von mir, würde ich dieses Treffen nicht mit ein paar Worten über den schrecklichen Verlust beginnen, den wir – und dieses Projekt – am gestrigen Tag erlitten haben. Nach einer vollständigen Autopsie hat der Pathologe bestätigt, dass Dr. Fielding an einer massiven Hirnblutung gestorben ist. Er …«
»Pathologe?«, unterbrach ich ihn. »Etwa der städtische Gerichtsmediziner?«
Skow bedachte mich mit einem nachsichtigen Blick. »David, wie Sie wissen, befinden wir uns nicht in einer gewöhnlichen Sicherheitssituation. Wir dürfen keine lokalen Behörden in die Angelegenheit hineinziehen. Dr. Fieldings Todesursache wurde von einem NSA-Pathologen in Fort Meade festgestellt.«
»Die NSA hat einen Pathologen?« Ich konnte verstehen, warum die Agency Psychiater brauchte. Das Entschlüsseln von Kodes war eine sehr stressreiche Tätigkeit. Aber ein Pathologe?
»Die NSA besitzt ein vollständiges Kontingent an medizinischen Spezialisten«, sagte Skow im Tonfall eines Fremdenführers. »Einige stehen direkt auf ihrer Gehaltsliste, andere sind vereidigte Berater.« Er warf einen Seitenblick zu Godin, der die Augen geschlossen hatte. »Haben Sie etwa Zweifel an der Todesursache von Dr. Fielding?«
Da war es. Der Fehdehandschuh lag auf dem Tisch. Ich konnte ihn dort liegen lassen oder aufheben.
»Schließlich«, fuhr Skow in gönnerhaftem Ton fort, »schließlich sind Sie selbst ein erfahrener Internist. Vielleicht haben Sie etwas bemerkt, das nicht zur Diagnose Schlaganfall passt?«
Ich spürte die Spannung in der Luft. Alle warteten, dass ich etwas sagte, insbesondere Ravi Nara, der den Schlaganfall diagnostiziert hatte, als Fielding starb.
»Nein«, erwiderte ich nach einer Weile. »Ravi sagte, er hätte eine halbseitige Lähmung, Sprachstörungen und eine erschlaffte Pupille bemerkt, kurz bevor Fielding starb. Die Symptome sind typisch für einen Schlaganfall. Es ist nur … es dauert normalerweise eine Weile, um an einer Hirnblutung zu sterben. Die Geschwindigkeit, mit der Fielding starb, hat mich überrascht.«
Es war, als hätte man die Luft aus einem Ballon gelassen. Überall erleichtertes Aufatmen und Zurücklehnen. Finger trommelten auf dem Tisch.
»Nun ja, natürlich«, sagte Skow großzügig. »Es hat uns alle überrascht. Und offen gesagt ist Andrew unersetzlich für uns.«
Ich hätte Skow am liebsten erwürgt. Er hatte Fielding während der gesamten letzten sechs Monate auswechseln wollen, doch es hatte niemanden gegeben, der auch nur halb so qualifiziert für diese Arbeit gewesen wäre wie der Engländer.
»Und um zu zeigen, wie ernst es mir damit ist«, fuhr Skow scheinheilig fort, »werden wir gar nicht erst versuchen, Andrew zu ersetzen.«
Lediglich Jutta Klein blickte so schockiert wie ich. Fielding hatte mehr über Project Trinity gewusst als sonst jemand außer Godin. Er hatte ein Dutzend größerer Probleme für uns gelöst. Probleme, die unsere Software- und Materialingenieure viele Wochen lang aufgehalten hatten, waren für den exzentrischen Engländer wie Puzzles, etwas, das man in einer Viertelstunde lösen konnte. In dieser Hinsicht war Fielding wahrhaft unersetzlich. Doch die quantenphysikalischen Aspekte von Project Trinity durften nicht ignoriert werden. Quantenphysik kam meinemVerständnis nach der Alchemie gleich – funktionierender Alchemie –, und ohne jemanden weiterzumachen, der qualifiziert war, Probleme wie Quantenverschränkung oder ungewolltes Tunneln zu lösen, war völliger Irrsinn.
»Und was gedenken Sie wegen der MRI-Nebenwirkungen zu unternehmen, die wir in den letzten Wochen untersucht haben?«, fragte ich. »Wie Sie wissen,
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