Geraubte Erinnerung
Geschwindigkeit festlegte, die Project Trinity nahm. Die Beziehung zwischen Godin und Skow spiegelte die zwischen General Leslie Groves und Robert Oppenheimer in Los Alamos wider. Groves war ein rücksichtsloser Antreiber gewesen, doch ohne Oppenheimers Kooperation hätte er die Atombombe wohl niemals fertig gestellt. Die ultimative Macht hatte also bei dem Zivilisten und Wissenschaftler gelegen, nicht bei dem Soldaten.
»Hallo, Skow«, sagte ich und bemühte mich nicht einmal um ein freundliches Lächeln.
»Der gestrige Tag war ein schrecklicher Schlag für uns alle«, intonierte er mit seinem aristokratischen Bostoner Akzent. Seine Lippen bewegten sich kaum. »Aber ich weiß, dass der Verlust Sie besonders schlimm getroffen hat, David.«
Ich suchte nach ehrlicher Trauer in seinen Worten. Der NSA-Mann war ein geübter Bürokrat, und es war schwer einzuschätzen, wann er etwas aufrichtig meinte.
»Peter wird jeden Augenblick hier sein«, fuhr er fort. »Ich schätze, von heute an wird er derjenige sein, der immer zu spät kommt.«
Ich musste innerlich grinsen. In der Vergangenheit war es stets Fielding gewesen, der sich verspätet hatte, wenn er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte zu kommen. An manchen Tagen war er den Meetings unentschuldigt ferngeblieben, und dann hatten sie stets mich geschickt, um nach ihm zu suchen. In der Regel hatte ich ihn in seinem Büro gefunden, wo er über komplizierten Gleichungen gebrütet hatte.
Ein undeutlicher Fluch wehte durch die offene Tür herein und kündete Peter Godins Kommen an. Trinitys leitender Wissenschaftler litt unter rheumatischer Arthritis, und heutzutage war bereits normales Gehen eine Bürde für ihn. Mit seinen einundsiebzig Jahren war Godin der mit Abstand älteste Mitarbeiter am Projekt. In Godins Kinderjahren hatte es noch keine Röhrencomputer gegeben, und doch hatte der »alte Mann« von Project Trinity in den vergangenen vierzig Jahren das digitale Zeitalter weiter und stärker vorangetrieben als irgendeiner der bildschirmbenommenen Gurus, die mit dem Skateboard nach Silicon Valley zur Arbeit fuhren.
Wie Seymour Cray, der Erfinder des Supercomputers, war auch Godin in den frühen Fünfzigerjahren einer der ursprünglichen Ingenieure bei Control Data Systems gewesen. Im Jahre 1957 hatte er das Unternehmen zusammen mit Seymour verlassen, um diesem bei der Gründung von Cray Research zu helfen. Godin war Teil des Teams gewesen, das den berühmten 6600 sowie den Cray One gebaut hatte, doch als Seymour Cray nachund nach die Kontrolle über das aufgeblähte Projekt Cray Two verlor, beschloss Godin, dass es an der Zeit war, aus dem Schatten seines Mentors zu treten. Still und leise machte er die Runde bei einer Reihe von Investmentbankern, brachte sechs Millionen Dollar zusammen und öffnete zwei Monate später die Türen von Godin Supercomputing in Mountain View, Kalifornien. Während Seymour alle Mühe hatte, den revolutionären Cray Two zu verwirklichen, konstruierten Godin und ein kleines Team ein elegantes, zuverlässiges Vier-Prozessor-Gerät, das sechsmal schneller war als der Cray One. Es war kein revolutionärer Fortschritt, doch er war groß genug, dass die Regierung die Geräte erwarb. Bei einem Stückpreis von acht Millionen Dollar zahlte Godin rasch seine Schulden zurück und machte sich daran, den Supercomputer seiner Träume zu entwerfen. Im Wettbewerb gegen nationale Regierungen und Seymour Cray persönlich hatte Godin im Markt der Supercomputer Fuß gefasst. Er blickte nie zurück. Als das Ende des Kalten Krieges das Geschäft mit Supercomputern praktisch über Nacht zum Erliegen brachte, wandte Godin sich der parallelen Prozesstechnik zu. Gegen Mitte der neunziger Jahre hatten seine Computer die Crays bei NORAD, der NSA, im Pentagon, in Los Alamos, bei Lawrence Livermore und in Raketensilos überall im Land entweder ganz verdrängt oder zumindest verstärkt. Peter Godin war in seinen Tagen sowohl Pionier als auch Nachläufer gewesen, doch er war vor allem eines: nicht unterzukriegen.
Alle blickten auf, als der alte Mann den Konferenzraum betrat, doch ich wäre fast aufgestanden. Als ich zwei Jahre zuvor zum Team gekommen war, hatte Godin kaum älter als Andrew Fielding gewirkt, der damals einundsechzig gewesen war. Doch zwei Jahre als Leiter von Project Trinity hatten Godin schockierend schnell altern lassen. Manchmal war sein Gesicht geschwollen wie das eines Krebspatienten unter dem Einfluss von Steroiden; dann wieder war es so hager,
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