Geraubte Erinnerung
zogen – war Oak Ridge zu etwas herangewachsen, das einer ganz normalen amerikanischen Stadt ähnelte, auch wenn es nie ganz das Gleiche wurde. Die Bewohner von Oak Ridge waren immer von einem gewissen Sendungsbewusstsein erfüllt, und der Beweis für den Wert der Stadt war zwar unsichtbar, doch allgegenwärtig. Wir, die wir dort gelebt hatten und lebten, wussten, dass wir im Fall eines Atomkriegs innerhalb weniger Minuten verdampft worden wären. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass die Stadt seit meinem Fortgehen weiter gewachsen war. Auf dem Strip gab es mehr Franchiserestaurants und Kettenläden, doch das Herz von Oak Ridge bildeten immer noch das Laboratory und die alten Uranhalden, eine Attraktion für Touristen, die die Werkzeuge sehen wollten, mit denen der Krieg gegen Japan gewonnen worden war.
Unser Wagen war das einzige Fahrzeug auf der Straße, als wir Oak Ridge auf dem Highway 62 hinter uns ließen. Wir umfuhren die Ausläufer der Big Brushy Mountains, hinter denendas Staatsgefängnis lag. Drei Landstraßen kreuzten sich in dieser menschenleeren Gegend, einer nebelverhangenen Welt, die von den Nachfahren von Bergmännern und Schwarzbrennern bewohnt wurde. Sie hielten hartnäckig an ihrer Existenz in den schattigen Tälern und den aufgelassenen Minen fest, die früher in die Hänge der Berge getrieben worden waren.
Ich bog nach Norden auf die 116, eine schmale Straße, die an der winzigen Ortschaft Petros und dann am Staatsgefängnis vorbeiführte, einer bedrückenden Anlage, umgeben von hohen Zäunen mit Natodraht im grellen Licht von Quecksilberdampflampen. Nördlich vom Gefängnis beschrieb die Straße einen weiten Bogen zurück. Ich bog nach links auf eine unbefestigte Piste ab, die nicht in der Karte eingezeichnet war und die ich aus meiner Erinnerung kannte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir vor den Toren des aufgegebenen Nationalparks ankamen, die inzwischen wahrscheinlich versiegelt und verschweißt waren.
Eine halbe Meile vor der Einfahrt verlangsamte ich den Wagen und begann nach einer Öffnung zwischen den Bäumen zu suchen. Als ich eine geeignete Lücke gefunden hatte, bremste ich und bog von der Straße ab. Zehn Sekunden später waren wir zwischen den Bäumen verschwunden. Ich fuhr weiter, bis das Unterholz zu dicht wurde und das Gefälle zu steil. Dann zog ich die Handbremse an und schaltete den Motor aus.
Rachel hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Ich griff nach hinten und zog unsere Schlafsäcke zwischen der Ausrüstung hervor. Während ich sie entrollte, schrak Rachel hoch und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit an.
»Was machen Sie da?«
»Ganz ruhig«, sagte ich zu ihr. »Alles in Ordnung. Wir sind da.«
»Wo?« Sie sah aus dem Fenster, doch unter den Bäumen war keinerlei Licht. Es war so dunkel wie in einer Höhle.
»Hinter Oak Ridge. Bei einem Nationalpark namens Frozen Head. Es ist ein verlassener Park.«
»Frozen Head?«
»Sie haben stundenlang geschlafen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht in Autos schlafen.«
»Dann schlafen Sie weiter nicht. Ich wecke Sie auf, bevor es dämmert.«
Sie blinzelte, als erwachte sie aus einer Trance. Dann legte sie die Hand vor den Mund und verzog das Gesicht. »Haben Sie zufällig Zahnbürsten gekauft?«
»Ja. Sie können sich morgen früh die Zähne putzen.«
»Ich muss pinkeln.«
»Sie haben den ganzen Wald zur Verfügung.«
»Ist es sicher da draußen?«
Ich überlegte, ob ich sie warnen sollte, sich vor Baumklapperschlangen in Acht zu nehmen, doch dann wäre sie wahrscheinlich nicht ausgestiegen. »Es ist der sicherste Ort, an dem Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gewesen sind.«
Sie kletterte aus dem Truck und bewegte sich aus dem Lichtschein, doch sie ließ die Tür offen. Die Innenbeleuchtung strahlte wie eine Laterne in die Nacht. Sie brauchte lange, und ich begann bereits, mir Sorgen zu machen. Dann fielen Regentropfen auf die Windschutzscheibe, und ich hörte sie kreischen. Sie kam in den Truck geflüchtet, ohne sich die Zeit zum Zuknöpfen ihrer Jeans genommen zu haben, und zog die Tür hinter sich zu.
»Es gießt in Strömen!«, kreischte sie, während sie ihre Knöpfe schloss.
»Regen ist gut für uns«, erwiderte ich. »Er überdeckt unsere Geräusche, wenn wir durch den Wald marschieren.«
Sie zog sich einen Schlafsack über die Brust und erschauerte. »Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber das ist Scheiße. Hätten wir denn nicht
Weitere Kostenlose Bücher