Geraubte Erinnerung
Overalls in Tarnfarben, dazu tarnfarbene Gummistiefel sowie isolierende Unterwäsche. Noch einen Gang weiter nahm ich einen Compoundbogen, acht Pfeile und einen Köcher aus den Regalen. Ich vervollständigte den Stapel mit einem Kompass, einem Fernglas, einem Gerber-Messer, Wasserreinigungstabletten, einer Maglite und zwei batteriebetriebenen Walkie-Talkies. Danach machte ich mich auf die Suche nach einem Verkäufer, der alles in die Kasse tippte.
Ich fand eine junge Mexikanerin, die misstrauisch mein Bargeld beäugte. Während sie jede einzelne Hundertdollarnote auf ihre Echtheit überprüfte, ging ich in die Toilettenabteilung und holte Zahnbürsten, Zahncreme und Seife. Die Gesamtsumme belief sich auf etwas mehr als tausendvierhundert Dollar. Nachdem ich bezahlt hatte, schob ich den Einkaufswagen zum Ausgang und verließ den Wal-Mart zusammen mit Rachel. Anschließend ging ich in einen Lebensmittelmarkt und kaufte genügend Vorräte ein, um zwei Wochen in der Wildnis überleben zu können, plus ein paar Flaschen Wasser. Während ich an der Kasse stand, überlegte ich, wie erstaunlich es doch war, dass ich mitten in der Nacht von einem Highway abbiegen und mich bei einem einzigen Stopp mit allem ausrüsten konnte, was ich für eine längere Zeitspanne in der Wildnis zum Überleben benötigte. Mein Vater hätte es nicht glauben wollen.
Rachel gab mir das verabredete Okayzeichen, als ich die Kasse hinter mir hatte, und ich atmete ein wenig befreiter durch. Der Mietcop am Ausgang hielt mich an, doch er wollte nur die Waren im Einkaufswagen mit denen auf meinem Kassenzettel vergleichen. Zehn Sekunden später waren wir wieder auf dem Parkplatz und marschierten zu dem braunen Ram. Ich warf sämtliche Einkäufe hinter den Sitz, dann half ich Rachel beim Einsteigen und steuerte den Wagen zurück auf die Interstate.
Kurz vor der Auffahrt steuerte ich den Parkplatz eines Best Western Motels an und parkte auf der Rückseite zwischen zwei anderen Trucks. Einer davon war ein alter blauer Dodge Ram mit einem Pferdeanhänger. Ich benutzte einen Schraubenzieher, den ich im Handschuhfach gefunden hatte, und schraubte die Zulassung des Bundesstaates Texas ab, um sie an unserem Ram zu befestigen. Danach fuhren wir ohne weitere Verzögerung auf die I-40 nach Westen in Richtung Tennessee Line, die irgendwo vor uns in den Appalachen lag.
Bald schnarchte Rachel wieder leise vor sich hin, den Kopf erneut in meinem Schoß. Ich schaltete das Radio ein und wählte einen Sender mit Musik von David Gray, bevor ich mich zurücklehnte und entspannte, bis ich nur noch die Straßenränder im Auge hatte. Wir fuhren in meine Vergangenheit, in die Wälder meiner Jugend, in eine Welt voll eigenartiger Kontraste und unauslöschlicher Erinnerungen. Das Oak Ridge National Laboratory war eine der am besten ausgerüsteten Forschungseinrichtungen in den Staaten, und doch lag es abgelegen inmitten einer dicht bewaldeten Umgebung. Dort war ich zusammen mit den Kindern brillanter Männer und Frauen aus Chicago und New York zur Schule gegangen, und mit Kindern von Eltern, die niemals aus dieser Gegend weggekommen waren. Einige der Wissenschaftler hatten die ländliche Umgebung als sterbenslangweilig empfunden, wenn nicht sogar beunruhigend, doch für meine Familie waren die bewaldeten Berge um Oak Ridge herum das reinste Paradies gewesen.
Es gab mehrere abgelegene Plätze in der Umgebung, wo wiruns verstecken konnten, doch einer war wie geschaffen dafür. Im vergangenen Jahr hatte ich von einem Jugendfreund erfahren, dass die Regierung den Frozen Head State Park wegen der angespannten Haushaltslage schließen musste. Zusammen mit meinem Bruder hatte ich unzählige Male dort gecampt. Inzwischen würde der gebirgige Park wahrscheinlich völlig verlassen sein mit Ausnahme einiger weniger fanatischer Wanderer, die sich nicht an anderen mit der gleichen illegalen Freizeitbeschäftigung störten.
Wir überquerten die Tennessee Line am südlichen Ende des Pisgah National Forest. Dann kam die Straße aus den dichten Wäldern hervor, und gegen Mitternacht passierten wir Knoxville. Ich blieb weiter auf der 62 in Richtung Westen, und nach weniger als dreißig Minuten fuhren wir durch Oak Ridge, Amerikas »geheimer Stadt« des Zweiten Weltkriegs. Heutzutage war Oak Ridge wegen seiner nuklearen Forschungsanlagen berühmt, doch während des Zweiten Weltkriegs war es auf keiner Landkarte verzeichnet gewesen. Zwischen 1945 und 1975 – dem Jahr, in dem wir nach Alabama
Weitere Kostenlose Bücher