Geraubte Erinnerung
wollte ich nicht recht daran glauben. »Nein. Ich habe Sie ausgewählt, weil Sie auf Ihrem Gebiet die Beste sind.Jungianische Analytiker sind nicht wie normale Psychologen, von denen man an jeder Ecke einen findet. Ich weiß, dass es möglicherweise unreif klingt, aber ich habe das Gefühl, als wäre es so bestimmt gewesen. Dass ich Sie finde, meine ich.«
Sie sah mich mit einem unendlich einfühlsamen Blick an, doch unter ihrer Einfühlsamkeit erkannte ich Schmerz. Irgendwie hatte ich eine tiefe Wunde berührt. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme vollkommen frei von jeder Emotion.
»Es ist einfach, wenn wir uns sagen, dass alles vorherbestimmt war, was immer auch geschieht. Es ist ein tröstlicher Gedanke. Er verleiht uns das Gefühl, dass es einen größeren Plan gibt. Ich dachte auch, mein Mann und ich wären füreinander bestimmt, doch das waren wir nicht. Es war lediglich eine schlechte Wahl, und ich habe sie als ›Schicksal‹ rationalisiert. Es ist erbärmlich, glauben Sie mir.«
»Erbärmlich? Aber aus dieser Ehe entsprang Ihr Sohn!«
»Der voller Angst und Schmerzen im Alter von fünf Jahren gestorben ist.«
Ihre Stimme besaß eine warnende Schärfe. Ich hatte während meiner Jahre als praktizierender Arzt viele Kinder sterben sehen, und ich wusste, wie sehr die Eltern darunter litten. Es konnte ein Schlag sein, von dem sie sich nie wieder erholten. Selbst das Personal im Krankenhaus war nicht immun. Der Panzer der Professionalität schmolz in Gegenwart eines leidenden Kindes rasch dahin. Für mich war dieses Leiden – die Todeskämpfe unschuldiger Kinder – einer der Hauptgründe, die es mir unmöglich machten, an Gott zu glauben.
»Sie und Ihr Sohn haben sich fünf Jahre bedingungsloser Liebe geschenkt«, sagte ich. »Wäre es Ihnen lieber, er hätte nie gelebt, um sich und ihm die Schmerzen seines Todes zu ersparen?«
Rachel musterte mich mit indigniertem Blick. »Sie sagen wirklich alles, was Sie denken, oder? Sie überschreiten einfach jede Grenze.«
»Nicht, ohne mir das Recht dazu erworben zu haben«,entgegnete ich. Ich meinte den Verlust meiner eigenen Tochter, und sie wusste es.
Sie wandte den Kopf zur Seite und starrte erneut aus dem Fenster. »Reden wir nicht darüber.«
»Wir müssen überhaupt nicht reden«, sagte ich. »Aber wir brauchen Vorräte. Ich werde in Winston-Salem oder Asheville bei einem Wal-Mart halten, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hat. Damit bleiben Ihnen ein paar Stunden zum Schlafen.«
»Ich bin völlig erledigt«, gestand sie.
»Kommen Sie her.«
»Was?«
»Beugen Sie sich zu mir herüber.«
»Was denn, an Ihre Schulter?«
»Nein. Seien Sie tapfer. Rollen Sie sich auf dem Sitz zusammen und legen Sie den Kopf in meinen Schoß.«
Sie schüttelte den Kopf, doch es war keine Weigerung. Ich hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Wenige Sekunden später zog sie sich die Schuhe aus, zog die Beine zu sich heran und legte den Kopf auf meinen Oberschenkel. Ich spürte, dass ihre Augen geöffnet waren, sah aber nicht nach unten. Ich senkte die rechte Hand und streichelte ihre Stirn. Meine Finger glitten durch ihr Haar.
»Das erinnert mich an die Zeit, als ich noch ein kleines Mädchen war«, begann sie.
»Ich wollte mich nicht mit Ihnen unterhalten. Machen Sie die Augen zu.«
Nach einer Weile schloss sie die Augen.
Gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig kamen wir durch Asheville. Eine hell erleuchtete Wal-Mart-Filiale tauchte in der Dunkelheit auf wie eine Oase aus Licht. Ich verließ die Interstate. Rachels Kopf ruhte noch immer in meinem Schoß, und mein rechtes Bein war nahezu taub. Sie reagierte nicht, als ich sie ansprach. Ich war versucht, sie im Wagen liegen zu lassen, während ich in den Wal-Mart einkaufen ging, doch ich wollte nicht, dass sieallein auf dem Parkplatz aufwachte. Außerdem bestand die Chance, dass die einheimische Polizei eine allgemeine Durchsage wegen des gestohlenen Pick-ups erhalten hatte. Um beim Verlassen des Marktes nicht in einen Hinterhalt zu geraten, weckte ich Rachel und postierte sie direkt hinter der Glastür im Laden, von wo aus sie jeden sehen konnte, der überdurchschnittliches Interesse an unserem braunen Dodge Ram zeigte.
Ich marschierte geradewegs in die Sportabteilung und machte mich daran, Ausrüstungsteile auf einen Tresen neben einer unbesetzten Kasse zu stapeln. Ein Zweimannzelt. Schlafsäcke. Rucksäcke. Eine Coleman-Lampe, einen Coleman-Ofen und Benzin. Aus einem anderen Gang wählte ich zwei Silent Shadow
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