Geraubte Erinnerung
in einem billigen Motel übernachten können?«
»Niemand auf der Welt weiß, wo wir im Augenblick stecken. Also kann uns auch niemand finden. So wollten wir es. Schlafen Sie jetzt.«
Sie nickte und lehnte sich gegen ihre Tür.
Ich saß noch eine Weile da und lauschte dem Trommeln des Regens und dem Ticken des abkühlenden Motors. Erinnerungen an nächtliche Jagdszenen mit meinem Vater und meinem Bruder gingen mir durch den Kopf, als wir in der Dunkelheit vor der Morgendämmerung geduldig auf unsere Chance für einen Schuss auf Enten oder Rotwild gewartet hatten.
Ich war vollkommen erledigt, doch ich wusste, dass ich vor Sonnenaufgang aufwachen würde. Irgendein primitiver Teil meines Gehirns, der in der Stadt in tiefem Schlummer lag, erwachte draußen in der Wildnis und flüsterte mir mit unfehlbarer Genauigkeit den Rhythmus der Wälder ein. Dieses Flüstern verriet mir, wenn die Dämmerung bevorstand, wann Regen einsetzte, wenn sich Wild bewegte. Ich zog mir den Schlafsack bis zum Kinn.
»Gute Nacht«, sagte ich zu Rachel.
Gleichmäßiges Atmen war ihre einzige Antwort.
Ich erwachte, als das erste schwache Blau zwischen den Bäumen hindurchschimmerte. Ich blinzelte mehrmals; dann blickte ich mich um, ohne den Kopf zu bewegen. Als ich nichts Auffälliges entdecken konnte, schüttelte ich Rachel sanft an der Schulter, bis sie ebenfalls erwachte. Erneut schrak sie hoch, doch diesmal war die Panik nicht ganz so groß wie in der vergangenen Nacht.
»Zeit zum Aufbruch«, sagte ich.
»Okay«, murmelte sie, obwohl sie aussah, als wäre sie am liebsten gleich wieder eingeschlafen.
Ich stieg aus dem Wagen und leerte meine Blase; dann lud ich die Ausrüstung aus, die ich am Abend zuvor gekauft hatte. Ich verstaute den größten Teil in meinem eigenen Rucksack und packte in Rachels nur ihren Schlafsack, ein paar Konserven und zwei Flaschen Benzin. Als sie ausgestiegen war, reichte ich ihr einen Silent Shadow Overall, dicke Socken und die Gummistiefel.
Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, doch dannnahm sie die Sachen und ging damit hinter den Truck. Während sie sich umzog, befestigte ich den Köcher und den Compoundbogen an meinem Rucksack. Anschließend schlüpfte auch ich in den tarnfarbenen Overall und die Gummistiefel. Während ich meinen Rucksack schulterte, schien der Wald schlagartig heller zu werden, und ich wusste, dass die Sonne im Osten über den Windrock Mountain gestiegen war.
Rachel kam um den Truck herum und sah aus wie eine der israelischen Soldatinnen, die ich auf Fotos gesehen hatte. Sie schulterte ohne große Schwierigkeiten ihren Rucksack, und sie beklagte sich nicht wegen des Gewichts.
»Wenn Ihre Freunde Sie jetzt sehen könnten«, sagte ich und klippste ihr ein Walkie-Talkie an den Gürtel.
»Sie würden sich auf dem Boden rollen vor Lachen.«
Ich stopfte unsere Straßenkleidung in ihren Rucksack. »Achten Sie auf den Boden. Treten Sie genau dahin, wo ich hintrete, und passen Sie auf, dass Ihre Kleidung nicht an Dornengestrüpp hängen bleibt. Falls wir getrennt werden, benutzen Sie das Walkie-Talkie, aber sprechen Sie ganz leise.«
»Okay.«
»Reden Sie nur, wenn es unbedingt erforderlich ist. Wenn ich die Hand hebe, bleiben Sie stehen. Packen Sie meinen Gürtel, wenn ich zu schnell gehe. Wir haben es nicht eilig. Wir werden wilden Tieren begegnen. Bewegen Sie sich ruhig von Schlangen fort und ignorieren Sie den Rest.«
Sie nickte. »Wo genau gehen wir hin?«
»Dort oben im Berg gibt es Höhlen. Wanderer kennen die eine oder andere, aber es gibt eine, die fast niemand kennt. Mein Dad und ich haben sie entdeckt, als ich ein kleiner Junge war. Das ist die Höhle, zu der wir gehen.«
Sie lächelte. »Ich bin bereit.«
Wir folgten den Reifenspuren des Trucks, bis wir den unbefestigten Weg erreichten; dann tarnten wir die Schneise, die ich in der Nacht zuvor gebrochen hatte, indem wir Gestrüpp aufhäuften. Ich überquerte den Weg und suchte nach einemkleinen Bach, einem Zufluss des New River, der eine vielleicht fünfzehn Meter tiefe Schlucht in den Berghang gegraben hatte. Wir würden die Schlucht benutzen, um auf den Berg zu steigen. Der Parkservice hatte zwar einen Weg angelegt, der parallel zu dem Bach verlief, doch ich wollte nicht riskieren, anderen Wanderern zu begegnen. Außerdem machte ich mir Gedanken wegen der Einheimischen, die möglicherweise Marihuana in dem geschlossenen Park anbauten. In engen Zeiten war die Versuchung für die Nachfahren der Schwarzbrenner
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