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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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groß, sich auf diese Weise ein wenig Geld hinzuzuverdienen, und sie betrachteten Fremde in der Regel mit Argwohn. Sie versahen ihre Felder mit Fallen und schossen gerne zuerst, bevor sie Fragen stellten.
    Bald hatte ich den Bach gefunden, und als richtiges Tageslicht den Wald erhellte, wateten wir in knöcheltiefem Wasser die Schlucht hinauf.
    Knorrige Baumstämme wurzelten in den Felsspalten rechts und links und streckten ihre Zweige nach oben wie arthritische Hände, und der Bachlauf war gesäumt von Felsbrocken in der Größe von Autos. Der Bach war an manchen Stellen seicht und breit, an anderen gurgelte er wild durch schmale Kanäle. Ich sah Spuren von Rotwild und Losung und einmal etwas, das wie eine Bärenspur aussah. Besorgt dachte ich an die Höhle. Im Gebüsch ringsumher raschelte es ununterbrochen, und Kaninchen und Gürteltiere flüchteten aus ihren Verstecken, wenn wir uns näherten. Alle paar Minuten drehte ich mich nach Rachel um, doch sie hielt sich tapfer. Hin und wieder rutschte sie auf nassen Felsen aus, doch es war schließlich auch kein Unternehmen für einen Anfänger, auf glatten Steinen durch eine Schlucht den Berg hinaufzuklettern.
    Ich kletterte über einen im Wasser liegenden Ast, als der Wind den Geruch von Rauch herantrug. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Zuerst glaubte ich, es wäre ein Lagerfeuer von einem Wanderer, doch das war es nicht. Es war guter Virginiatabak. Ich hob unnötigerweise die Hand. Rachel war im gleichen Augenblickstehen geblieben, als sie gemerkt hatte, dass ich stehen geblieben war.
    Ohne den Kopf zu bewegen, suchte ich das vor mir liegende Gelände ab, die Felsen und Bäume. Nichts rührte sich bis auf das Wasser des Bachlaufs und Regentropfen, die von den Blättern über uns herabrollten. Ich hob den Blick und suchte die unteren Zweige der Bäume ab. Vielleicht war es ein Wilderer in einem Hochsitz. Doch ein richtiger Jäger musste wissen, dass der Rauch einer Zigarette seine Chancen zunichte machte, ein Stück Wild zu schießen, selbst außerhalb der Saison. Doch die Bäume waren leer.
    Ich bewegte den Kopf ganz leicht zur Seite und suchte den Rand der Schlucht ab. Zuerst die rechte Seite, dann die linke. Nichts. Ich sog erneut prüfend die Luft ein. Der Geruch war verschwunden.
    Rachel zupfte an meinem Gürtel. »Was ist?«, flüsterte sie.
    Ich drehte mich um und sah Angst in ihrem Gesicht. Seien Sie still, formte ich lautlose Worte mit den Lippen. Bewegen Sie sich nicht.
    Sie nickte.
    Eine weitere unsichtbare Wolke Tabak stieg mir in die Nase, stärker als beim ersten Mal. Ich drehte mich ganz langsam um, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund sah ich nach oben. Keine vierzig Meter von uns entfernt stand ein Mann in schwarzer Kampfmontur am Rand einer Klippe und schnippte eine Zigarette in die Schlucht. Mein Herz drohte auszusetzen, doch ich rührte mich nicht. Der Stummel segelte durch die Luft, ein weißes Etwas vor grünem Hintergrund; dann landete er im Wasser und trieb auf uns zu.
    Der Mann sah dem Stummel hinterher. Ich war sicher, dass er uns jeden Augenblick entdecken musste, doch dann sah er plötzlich weg und nahm etwas von der Schulter. Ein schwarzes Schnellfeuergewehr. Ein M-16. Er lehnte die Waffe gegen einen Baum, öffnete den Reißverschluss seiner Hose und urinierte über die Klippe. Er spielte mit dem Strahl wie ein kleiner Jungeund zielte auf den Bach, doch er kam nicht so weit. Ein Knabe wäre problemlos so weit gekommen. Der Mann oben auf der Klippe musste Ende dreißig sein, und er trug eine kugelsichere Weste.
    Ich betete, dass Rachel nicht in Panik geriet. Sie mochte den Fremden vielleicht nicht gleich bemerkt haben, doch sie konnte den hohen goldenen Bogen unmöglich übersehen, der im frühen Sonnenlicht glänzte. Der Mann beendete seine Notdurft mit ein paar letzten, pumpenden Spritzern; dann schüttelte er seinen Penis ab, zog den Reißverschluss zu und nahm das Gewehr vom Baum. Als er es schulterte, wanderte sein Blick in die Schlucht hinunter, direkt in unsere Richtung.
    Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass er uns entdeckte.
    Sein Blick glitt über uns hinweg; dann kehrte er zurück. Der Mann blinzelte und sah erneut den Bach hinunter zu einer weiter entfernten Stelle. Es waren die Tarnanzüge und die Tarnmützen. Er konnte uns nicht vom Hintergrund aus Felsenschlucht und Gestrüpp unterscheiden. Während ich ihn beobachtete, ruckte sein Kopf in einer merkwürdigen Bewegung nach rechts, als hätte er ein nervöses

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