Geraubte Erinnerung
Leiden, und mir dämmerte, dass er in ein Kragenmikrofon sprach. Ich hörte das leise metallische Plärren eines kleinen Lautsprechers, doch ich verstand die Worte nicht. Der Mann drehte sich um und verschwand unter den Bäumen.
In ungläubiger Betäubung stand ich dort und sah Rachel an, die meinen Blick verwirrt erwiderte.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
»Haben Sie das nicht gesehen?«
»Was?«
»Den Typen oben auf der Klippe, der in die Schlucht gepinkelt hat.«
Ihre Augen weiteten sich.
»Er hatte ein Schnellfeuergewehr.«
»Ich habe nichts gesehen! Ich habe Sie beobachtet. Ichdachte, Sie hätten eine Schlange aufgeschreckt oder irgendwas in der Art.«
»Wir kehren um. Zurück zum Truck. Sofort.«
Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. »Was ist mit der Höhle?«
»Aufgeflogen. Sie warten schon auf uns.«
»Das ist unmöglich!«
»Es ist nicht nur möglich, sondern eine Tatsache. Der Typ hatte ein M-16 bei sich und trug eine kugelsichere Weste. Jäger oder Wilderer hier in dieser Gegend sehen anders aus.«
»Aber wir sind den ganzen Weg hierher gekommen …«
Mir war heiß. »Was schert es Sie?«
»Nichts. Ich meine … die Höhle sah nach einem sicheren Versteck aus.«
»Ist sie aber nicht.«
Ein neuer Gedanke fand schwelend den Weg aus meinem Unterbewusstsein. Sie wussten, dass wir kommen würden. Ich dachte ihn nicht weiter, sondern lauschte mit äußerster Konzentration. Ich war nicht sicher, was ich gehört hatte, doch irgendetwas war dort draußen. Eine Bewegung, die nicht in die übliche Geräuschkulisse der Wälder passte. Ich fluchte lautlos. Der Regen, der die Geräusche unserer Schritte verschluckt hatte, würde nun unseren Feinden Deckung geben. Oder waren es vielleicht nur meine Feinde?
Begreifen dämmerte in meinem Bewusstsein, als ein weiteres leises Plärren die Stille durchbrach, und ich wusste, dass ein weiterer Gewehrschütze keine zwanzig Meter von mir entfernt stand. Ich trat lautlos hinter Rachel, legte ihr eine Hand über den Mund und presste sie mit dem anderen Arm vor mich, sodass sie sich nicht rühren konnte. Sie versuchte zu schreien, doch es kam kein Laut über ihre Lippen.
Ich stand bewegungslos im Wasser, das leise um meine Stiefel gurgelte. Rachel wehrte sich gegen meinen Klammergriff. Der Rucksack machte es schwer, sie festzuhalten. Ich befürchtete, sie könnte mir in die Hand beißen, doch das tat sie nicht. Diesallein hielt den Verdacht am Leben, dass sie diejenige gewesen war, die der NSA verraten hatte, wo sie uns finden konnten.
»Ich werde jetzt Ihren Mund freigeben«, raunte ich ihr ins Ohr. »Sollten Sie versuchen zu schreien, schneide ich Ihnen die Kehle durch.«
21
A ls ich Rachel losließ, wirbelte sie im Wasser herum. Ihr Gesicht war eine starre Maske aus Wut und Entsetzen. Dann sah sie das Messer in meiner Hand, das Gerber, das ich im Wal-Mart gekauft hatte.
»Gehen Sie«, befahl ich ihr. »Zurück, die Schlucht hinab. Sie wissen ja inzwischen, wie es funktioniert.«
Sie starrte mich noch einen Augenblick länger an; dann wandte sie sich um und kletterte über die ersten Felsen. Ich steckte das Messer wieder in die Scheide und nahm den Bogen in die Hand. Ich hatte zwar kaum eine Chance gegen einen Mann mit einem M-16, doch falls ich meinen Gegner zuerst sah, gelang mir vielleicht ein schneller Schuss.
»Bleiben Sie dicht an der rechten Wand«, sagte ich.
Sie bewegte sich nach rechts, während sie geschickt von Stein zu Stein balancierte. Ich folgte ihr durch die steile Schlucht, während mein Verstand voller Fragen war, die ich ihr hätte stellen sollen, bevor ich sie mitgenommen hatte. An jenem ersten Tag beispielsweise, als sie mich aus meinem Traum über Fieldings Tod gerissen hatte … wie war es ihr gelungen, meine Wohnungstür zu öffnen? Ich hatte mich eingesperrt, nachdem der FedEx-Bote weggefahren war, und doch war ich vom Krachen der Tür gegen die Sicherheitskette aufgewacht und davon, dass Rachel meinen Namen gerufen hatte. Außerdem, wie hatte sie mein Haus finden können, ohne dass ich ihr meine Adresse verraten hatte? Ich kenne jemanden im Büro der UVA , hatte sie erzählt. Die Universität war mit Sicherheitverpflichtet worden, keinerlei Informationen über Mitarbeiter bei Trinity herauszurücken. Und das Überwachungsflugzeug auf dem Highway? Woher hatten sie gewusst, welchen der zahllosen Wagen zwischen Chapel Hill und Nags Head sie mit ihrem Abhörlaser aufs Korn nehmen mussten? Ein Anruf von Rachel,
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