Geraubte Herzen
jungen Dame von deinem Kaliber Respekt schuldet? Es sollte ihm eine Ehre sein, dass du dich mit ihm verabredest.«
»Wir gehen nicht aus. Er hilft mir bei meinen Physikaufgaben.«
»Das ist gar keine Verabredung!«
Hope hielt die Luft an und wartete auf Madam Naincis Urteilsspruch.
»Das ist … das ist besser als eine Verabredung. Er hilft dir mit derPhysik? Ja, das ist ein wahres Opfer. Also gut!« Madam Nainci warf mit einer extravaganten Geste die Arme hoch. »Ich werde Mr. Jones sagen, dass es zu spät ist - fürs Erste, jedenfalls. Aber falls du mit dieser Romanze irgendwelche Probleme hast, musst du es mir sagen. Ich habe mit Romanzen jede Menge Erfahrung. Ich kann dir helfen.«
»Ja, Madam Nainci.« Hope sparte es sich anzumerken, dass Madam Naincis Erfahrungen allesamt gescheiterte Romanzen betrafen. »Gehen Sie heute Abend auch aus?«
»Ja, ich habe Stanford ein Rendezvous gewährt.«
Hope betrachtete die vor Vitalität sprühende, dem Leben zugewandte Madam Nainci, dann stellte sie sich Mr. Wealaworth vor: jünger, dünner, still und verblichen wie eine alte Fotografie. »Ist es Ihnen ernst mit ihm?«
»Nicht im Geringsten! Aber es macht ihn glücklich, und ich mag das griechische Restaurant, das er vorgeschlagen hat. Aber er ist mir … Wie heißt das Wort noch? … Er ist mir zu nervös. Ständig macht er sich irgendwelche Sorgen.« Die Tür flog auf, und ein kalter Luftschwall brauste herein. »Da kommt unsere Sarah, um das Schaltbrett zu übernehmen.« Madam Nainci machte ein finsteres Gesicht. »Zu spät!«
Sarah ließ mit der für sie typischen Eile ihren Wintermantel zu Boden fallen. »Ich bin zu spät, weil ich das hier noch kaufen musste.« Sie war ein kleines Energiebündel, und ihre braunen Augen blitzten, während sie mit der Effekthascherei eines Zirkusdirektors einen langen Schal aus der Tasche zog. »Ist der nicht wundervoll?«
Das war er. Türkise Blumen blühten auf einem glänzenden, dunkelbraunen Seidengrund, und an den Enden schimmerten cremefarbene Fransen. »Ist der schön!« Hope befingerte das fließende Gewebe. »Wo hast du den her?«
»Joe kennt da eine Modeschöpferin, die für wenig Geld solche Sachen macht«, sagte Sarah.
»Also hat Joe ihn dir gekauft?«, hauchte Hope neiderfüllt.
»Nein, du Dummerchen, den habe ich für dich gekauft.« Sie zog Hope auf die Füße und legte ihr den Schal um den Hals.
»Oh …« Hope ließ die Hände die großzügige Länge hinabgleiten. »Das kann ich nicht annehmen. Er ist viel zu -«
»Du kannst jetzt nicht Nein sagen«, unterbrach Madam Nainci. »Da wäre Sarah beleidigt. Nicht wahr, Sarah?«
»Aber klar«, sagte Sarah fröhlich. »Am besten, du trägst ihn zum … Physiklernen!« Sie zwinkerte Hope auffällig zu.
Madam Nainci schniefte beleidigt. »Du weißt also von ihrem Butler?«
»Sie wollte es mir eigentlich nicht sagen. Aber dann habe ich sie für heute zum Essen und zum Quatschen eingeladen und sie festgenagelt.«
»Ihr macht beide viel zu viel Aufhebens um heute Abend.« Aber Hope errötete, und die beiden Frauen kicherten.
»Ach ja?«, stichelte Madam Nainci. »Es ist dir ja so egal!« Es läutete an der Tür. Madam Nainci eilte davon, und der Schal, den sie sich um die Hüften gelegt hatte, wogte in Bernsteingelb und Scharlachrot. »Mr. Wealaworth, kommen Sie herein. Wie war die Mittagspause?«
»Gut.« Den Hut in der Hand kam er herein und stand verlegen zwischen den Frauen herum. »Guten Tag, die Damen.« Er wandte sich an Hope. »Ich hoffe doch, unserer kleinen Firma geht es gut?«
»Sehr gut.« Hope sah ihm zu, wie er zu seinem Schreibtisch ging und sich an die Arbeit machte. Sie mochte ihn. Er war peinlich genau. Er ließ sie für die Postsendungen unterschreiben; er hatte ihren Namen auf den Briefkopf gesetzt. Und einmal hatte sie Akten gegengezeichnet. Er hatte ihr sämtliche Zahlen erklärt. Er war so geduldig und so klar. Sie hatte das meiste von dem, was er gesagt hatte, verstanden und war zufrieden damit. Schließlich hatte sie nicht vor, Buchhalterin zu werden , aber eines Tages würde sie einen Buchhalter brauchen, der ihr Geld verwaltete, und mit Mr. Wealaworths Hilfe sammelte sie Erfahrung.
Eine Erfahrung, die ihr Vater nicht gehabt hatte. Auch
wenn sie nicht viel von Bankgeschäften verstand, eines verstand sie: Wenn von den Konten der Kirche in Hobart Geld verschwunden war, dann musste es jemand gestohlen haben, und dieser jemand war nicht Reverend Prescott. Das hatte sie damals schon
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