Geraubte Herzen
und Hope begriff, dass sie gingen. Sie waren fort. Und keiner hatte ihr gesagt, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die Krise war vorüber, Hopes Handflächen waren feucht, ihr Herz schlug immer noch zu schnell, und ihre Knie gaben nach. Sie sank in ihren Stuhl und rief: »Warten Sie! Was ist es denn?«
Keiner antwortete.
Noch ein bisschen verzweifelter sagte sie: »Hat denn irgendwer die Herdplatte ausgeschaltet?«
Hope stieg aus dem Bus und stapfte die Straße hinunter zu ihrem Apartment. In den Ecken unter den schiefen Vorbauten türmte sich dreckiger Schnee. Von den Fensterrahmen sprang die Farbe ab. Die Häuser, allesamt über sechs Stockwerke hoch, schienen sich zur Straße hin zu neigen, und das Mauerwerk bröckelte. Verglichen mit Beacon Hill war die Gegend ein Trümmerfeld, und als Hope sich einen eisigen Tropfen von der Wange wischte, stellte sie fest, dass ihre Hand zitterte. Nein, sie war nicht deprimiert. Sie hatte gar keine Zeit, deprimiert zu sein. Aber sie hatte heute mitgeholfen, ein Baby auf die Welt zu holen, und niemand hatte daran gedacht, ihr wenigstens zu sagen, was es war. Junge oder Mädchen, das war egal, so lange es nur gesund war …, aber sie wollte es wissen! Sie hatte das Neugeborene schreien hören. Sie hatte bei der Geburt eine wichtige Rolle gespielt, und am Ende hatte man sie vergessen. Dumm, deswegen unglücklich zu sein, aber sie war es.
Sie hatte bei der Notrufzentrale angerufen, aber man hatte ihr nicht einmal gesagt, in welchem Krankenhaus die Shepards waren. Sie hatte noch vorgeschlagen, dass sie jemanden
ins Haus zurückschicken sollten, um den Herd abzustellen, dann hatte sie aufgelegt.
»Hey, hey, Lady. Hey!« Ein hagerer Teenager mit stoppeligen Wangen sprang ihr von einer der Veranden direkt in den Weg.
Sie blieb stehen und stolperte zurück. Ihr Herz fing zu hämmern an. Lieber Gott. Ein Straßenräuber. Ein Vergewaltiger. Ihre Handflächen wurden in den Fäustlingen feucht.
Er lief neben ihr her, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, ein breites Grinsen verzerrte ihm das Gesicht. »Hey, Lady, was machen Sie hier? Ha?«
»Ich gehe nach Hause.« Sie hielt ihre Stimme ruhig, aber sie verfluchte sich.
Anfangs war sie, wenn sie diese Straße entlanglief, jede Sekunde auf der Hut gewesen, aber nie war etwas passiert, und irgendwann im Laufe der letzten beiden Jahre hatte sie ihre Wachsamkeit aufgegeben. Jetzt stand da dieser fremde Kerl, groß und dürr; einer, den sie bei den Gruppen der Rowdys, die sich in den Ecken herumdrückten, rauften oder Drogen verkauften, nie gesehen hatte.
»Ham Sie geweint, Lady?« Er griff nach ihrem Gesicht.
Sie wirbelte weg und versuchte, sich zu erinnern, was sie ihr in der High School beigebracht hatten. Über Kämpfen. Über Selbstverteidigung. Unglücklicherweise lautete die wichtigste Regel, an die sie sich erinnern konnte: Bringt euch erst gar nicht in Schwierigkeiten . Aber genau das hatte sie getan.
»Sie wollen wohl nicht angefasst werden? Dabei bin ich echt nett.« Er hatte die glänzenden Augen eines Crack-Konsumenten. »Sie könnten mir das Zeug aus dem Rucksack geben.«
»Das sind Bücher.«
»Bücher mag ich.« Seine nackten Finger kamen aus den durchlöcherten Handschuhen. Er griff nach dem Gurt des Rucksacks. »Und Geld auch? Geld mag ich auch.«
Die gebrauchten Schulbücher hatten sie einen Wochenlohn gekostet. Sie wusste, sie hätte ihm die Bücher geben sollen. Sie waren es nicht wert, das Leben zu riskieren. Aber es war ein schrecklicher Tag in einem schrecklichen Leben gewesen. Sie war wütend, durchgedreht und nicht in der Stimmung, sich von noch jemandem ausnutzen zu lassen.
Sie ließ ihm den vollbepackten Rucksack auf den Arm donnern, und als er ins Stolpern geriet, erwischte sie den anderen Gurt. Sie schwang den Rucksack mit aller Kraft herum und traf den Kerl mit dem ganzen Gewicht der Bücher an der Schläfe.
Er fiel auf die Knie.
Sie lief auf und davon, sprintete, den Rucksack in der Hand, auf das Apartmenthaus zu.
Sie hörte ihn augenblicklich wieder. Er kam hinter ihr her. Er kam näher.
Sie spurtete mit Höchstgeschwindigkeit. Sie raste die Stufen zur Tür hinauf. Sie hatte es fast geschafft -
Da schlug er sie nieder.
Die Beine rutschten unter ihr weg. Sie landete mit dem Rücken flach auf der schmalen Treppe. Sein wütendes Gesicht schwamm in ihr Blickfeld.
Er hatte ein Messer. Er hielt es, die Spitze nach oben, mit kundigem Griff in der rechten Hand. Sie sah nichts, nur die Klinge,
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