Geraubte Herzen
die im dämmrigen Licht der untergehenden Sonne blitzte. Sie roch nichts, nur seine Körperausdünstungen und süßlichen Rauchgestank. Sie hörte nichts, nur seine schnarrende Stimme. »Dummes Miststück. Das wirst du noch bereuen.«
Sie bereute es längst. Sie wollte so nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier.
Irgendwo im Hintergrund - auf der anderen Straßenseite? Am Ende des Blocks? - hörte sie einen Schrei.
Aber das Messer zuckte nicht einmal. Es näherte sich ihrem Gesicht. Die Spitze drückte sich neben dem Auge an ihre linke Schläfe. Sie starrte den jungen Kerl an und sah ihren Tod in seinen Augen.
Wieder ein Schrei, näher diesmal. Unten an der Treppe. »Hey, Blödmann, die steht unter Mas Schutz.«
Der Kerl riskierte einen schnellen, zornigen Blick zur Seite. »Kümmert mich einen Dreck.«
»Sollte es aber, weil Ma dir nämlich die Eier abschneidet und sie ihr an die Tür nagelt.« Füße trampelten die Treppe herauf. Ein Kerl, der genauso dreckig und übel riechend war wie der erste, stellte sich neben sie. »Ich sag dir, die Nutte steht unter Mas Schutz. Sieh zu, dass du abhaust, bevor Ma Wind davon bekommt.«
Aus dem Augenwinkel sah Hope die schmutzige Hand, die sie so gerne töten wollte, vor Mordlust zittern - es wäre so einfach gewesen.
Langsam zog sie das Bein an. Sie würde ihm in die Knie treten, wenn sie die Chance hatte.
Dann zuckte die Hand zurück. Das Messer verschwand im Ärmel. Die beiden Kerle liefen die Straße hinunter und verschwanden in der Dämmerung.
Hope saß benommen da.
Sie war beinahe ums Leben gekommen. Lausiger Tag oder nicht. Lausiges Leben oder nicht. So wollte sie nicht gehen.
Als der Schneematsch die Jeans und die langen Unterhosen völlig durchnässt hatte, rappelte sie sich auf. Stück für Stück zog sie sich hoch, klopfte sich ab, suchte ihre
Beine, ihre Hände und ihr Hinterteil nach Verletzungen ab.
Sie war unverletzt. Abgesehen von den zittrigen Händen und dem hohlen Gefühl in der Magengrube. Und der Tatsache, dass sie auf ihrer eigenen Haustreppe hätte verbluten können, abgestochen von einem Drogenabhängigen, wegen Büchern, die er sofort auf den Müll geschmissen hätte. Und niemanden hätte das gekümmert.
Sie fasste einen Entschluss, griff sich den Rucksack, rannte die Stufen hinunter und marschierte zur Bushaltestelle.
16
»Sir, da draußen ist eine junge Lady, die Mr. Griswald sprechen möchte.« Leonard, der Unterbutler, stand in Zacks Arbeitszimmer an der Tür.
»Eine junge Lady?« Zack blickte von seinem Aktenberg auf. Ihm kam augenblicklich Hope in den Sinn, aber sie hatte gesagt, sie müsse lernen. Hatte sie plötzlich die Lust überkommen?
Nein. Nicht Hope. Die Frau war genauso willensstark wie die Frauen seiner Familie. Er fragte sich, womit er das verdient hatte.
Leonard trat von einem Fuß auf den anderen. Er war groß und dürr wie ein Kadaver, hatte eine fahle Haut, vorstehende Augen und eine unruhige Art, die Zack auf die Nerven ging. »Sir, sie wollte mir ihren Namen nicht sagen, aber ich glaube, es handelt sich um die junge Lady, die Sie gestern Abend hier hatten.«
Also war es Hope … und wieso hatte Leonard sie gestern zu Gesicht bekommen?
Aber vor allem, warum war sie hier, immerhin hatte sie sich doch gestern eisern geweigert, heute Abend herzukommen?
Zack sprang auf und lief zur Tür. »Danke, Leonard. Ich rufe Sie, falls ich etwas brauche.«
Leonard verschwand gerade noch rechtzeitig.
Zack rechnete damit, dass ihn, wie üblich, ein strahlendes Lächeln begrüßte. Doch sie stand wie Strandgut im Foyer, Mantel, Mütze und Fäustlinge noch an, den Kopf gesenkt, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Sie schien unfähig, sich nur einen Zentimeter zu bewegen, als hätte sie ihre ganze Energie darauf verwendet, hierher zu kommen.
Zack eilte zu ihr. »Ist etwas passiert?«
Sie rührte sich nicht.
»Hope, was ist denn los?« Er beugte sich zu ihr und sah ihr ins Gesicht.
Sie schien zu merken, dass er da war. Sie hob den Kopf, die blauen Augen wurden weit, und ein schmerzlich süßes Lächeln huschte über ihre bleichen Lippen. »Griswald? Ich hatte einen lausigen Tag.«
Sie hatte einen verschmierten roten Striemen auf der Backe. Er folgte ihm mit dem Finger bis unter die Strickmütze. Sacht zog er die Mütze ab und da, an ihrer Schläfe, saß der Schnitt. Nicht tief, aber über zwei Zentimeter lang und blutverklebt.
Dieser Schnitt war kein Unfall. Ein scharfes Messer oder vielleicht eine Rasierklinge war
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