Geraubte Seele
mit mir anstoßen?“ Er zeigte mir die Flasche, die er bislang hinter dem Rücken versteckte.
„Nein, danke“, lehnte ich ab. Ich stand von der Terrassenliege auf und wollte in die Wohnung hinein gehen.
„Ich weiß, dass es nur eine billige Marke ist. Es ist nur – ich habe wirklich hart gearbeitet.“ Es war nicht zu überhören, wie enttäuscht er war.
„Und wenn die Flasche einen Sammelwert hätte. Nein danke.“ Blieb ich hart. „Ich freu mich sehr. Ich freue mich für dich und auch, dass du damals auf mich gehört hast.“ Diesmal gelang es mir leichter zu lächeln. Ich fühlte mich, als hätte ich eine gute Tat vollbracht. Und ich fühlte mich, als würde diese eine gute Tat einen Teil meiner dunklen Vergangenheit wieder gut machen können. „Ich hab dir schon einmal gesagt, dass ich nicht trinke. Schon vergessen?“ Gute Taten hin oder her. Ich war enttäuscht. In unerwarteten Momenten erwies er sich als sehr aufmerksam. Bei Banalitäten war er es nicht.
„Mein Gott, ein kleines Gläschen. Oder glaubst du, du könntest das Fass deiner Sünden damit zum Überlaufen bringen?“ Er kicherte.
„Ja, genau so ist es.“ Ich antwortete ihm mit solchem Ernst, dass ihm das Kichern im Halse stecken blieb.
Er folgte mir bis in die Küche. Eine Weile sah er mir schweigend bei der Zubereitung meines Abendmahls zu. Nebenbei öffnete er seine Weinflasche und schenkte sich in das Glas ein, das bereits auf der Arbeitsplatte stand.
„Das ist ja krank“, hackte er erneut auf meinen Worten herum.
„Die Diagnose eines Kinderarztes.“ Ich biss in das fertig geschmierte Brot und suchte mir aus dem Gemüsekorb eine reife Tomate aus.
„Du verhältst dich ja in einer gewissen Hinsicht auch recht kindisch.“ Ich war erstaunt, so etwas von jemandem zu hören, der jünger war als ich.
Ich sah ihm zu, wie er das Glas leer trank, es auf die Arbeitsplatte abstellte und gehen wollte.
„Spülst du es nicht ab?“ Diesmal konnte ich es nicht mehr schweigend hinnehmen.
„Wozu? Ich werde heute noch was trinken.“ Ich schnitt die Tomate in kleine Spalten, spülte das Messer ab, wischte es mit dem Geschirrtuch trocken und räumte es zurück in die Besteckschublade.
„Das ist ja ekelhaft.“
Mit einem Mal war er wie ausgewechselt.
„Das findest du ekelhaft?“ Er stürmte auf mich zu, dass ich im ersten Augenblick dachte, er würde mich umstoßen. „Du stopfst dir den Bauch mit Essen voll, um es später wieder auszukotzen. Und wenn dich einer von deinen Freiern, statt zu bezahlen, zusammenschlägt, hast du nicht einmal den Mumm, ihn bei der Polizei anzuzeigen. Das finde ich ekelhaft!“ Da er um einen Kopf größer war als ich, vergaß ich in dieser Sekunde die vier Jahre Altersunterschied, die zwischen uns lagen.
„Nein, das finde ich nicht nur ekelhaft, sondern richtig krank. Du bist richtig krank“, klopfte er mir mit seinem Finger an die Schläfe. Eigentlich hatte er es vor, doch bevor er mich überhaupt berühren konnte, packte ich ihn am Arm und hielt ihn davon ab.
„Es gibt so viele Menschen auf der Erde, die nichts zum Essen haben. Es wäre reine Verschwendung, Essen in den Abfluss zu spülen. Nicht, dass es dich was angeht. Aber genau deshalb, damit ich kein Essen auskotze, esse ich das letzte Mal drei Tage, bevor ich mich mit den Männern treffe. Um ihnen mit einem leeren Magen zu begegnen. Um die Erinnerung und das miese Gefühl die Toilette runter zu spülen. Vielleicht auch mein Leben. Aber kein Essen.“ Ich bemerkte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht schwand. Es lag womöglich gar nicht an meinen Worten, sondern an meinem festen Griff. „Und ich hoffe …“ Mit einer einzigen Bewegung verdrehte ich seinen Arm so, dass er sich auf die Zehenspitzen stellte, den Rücken schief verbog und laut zischte. „Ich hoffe, dies ist dir Erklärung genug, warum ich die Polizei nicht rief.“ Ich ließ ihn abrupt los, ging mich umziehen. Kurz darauf verließ ich die gemeinsame Wohnung.
Seine Worte hatten mich sehr gekränkt. Die Männer gaben mir verschiedenste Namen, erniedrigten mich nach allen Regeln dieser Kunst und es verletzte mich bei Weitem nicht so, wie das, was er zu mir gesagt hatte. Dabei glaubte ich gar nicht mehr, dass mich etwas so sehr berühren könnte.
Nach einiger Zeit und mehreren Kilometern erkannte ich, dass es mir nicht einmal um das ging, was er gesagt hatte, sondern um ihn selber. Ungewollt und unbewusst wurde er mir wichtig, kam mir näher, drang tiefer in mein Leben ein, als
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