Geraubte Seele
blieben nur noch neun Tage, um fit zu werden.
„Oh, ich hab dich schon so lange nicht gesehen! Ich hab mir bereits richtig Sorgen gemacht.“ Ich drehte mich um und sah sie an. Sogar beim Joggen trug sie diese Brille und den unansehnlichen Dutt.
„Sorgen?“, fragte ich verwundert nach.
Noch einer, der sich Sorgen um mich machte.
Das unerwartete Interesse der Anderen an meinem Leben könnte mir langsam zu viel werden.
„Bei dem, was sich da herumtreibt“, streifte sie mit dem Blick um uns herum, „dachte ich, man hätte dich irgendwohin verschleppt.“
„Verschleppt?“ Wiederholte ich wie ein dressierter Vogel. Aber mir fiel sonst nicht ein, was ich ihr darauf hätte antworten können.
„Ja. Betäubt, verschleppt und …“
„Es mir bis zur Bewusstlosigkeit besorgt …“, bemerkte ich. Sie grinste, als hätte sie meinen schnippischen Unterton überhört. Hinter mir quakte es laut. Ich drehte mich kurz um und sah zum Teich rüber.
„Na ja, so oder ähnlich. Ich wartete nunmehr auf die Nachricht im Fernsehen, dass man dich aus dem Teich gefischt hätte.“
„Teich.“ Plapperte ich erneut nach.
„Tja, irgendwo müssten sie dich ja nach getanem Dienst schließlich entsorgen.“ Meine Augen wurden ganz groß.
„Nach getanem Dienst … entsorgen.“
Mein Gott, wo ist mein einsames Leben geblieben? Wissen nun alle über mich Bescheid? Trage ich es etwa auf der Stirn geschrieben?
„Du scheinst sehr viel über Männerfantasien zu wissen. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Sie errötete, obwohl dies nicht als Kompliment gedacht war.
„Es ist immer das Gleiche. Warum, glaubst du, trag ich diese hässliche Brille und diese bescheuerte Frisur?“ Nun wäre das auch geklärt. Nicht dass es mich interessierte, aber …
„Und? Hilft es?“
„Ja.“ Alleine ihr Gesichtsausdruck zeugte davon, wie sehr sie davon überzeugt war. „Seit meine Röcke bis zu meinen Knöcheln reichen, hat mich keiner von ihnen mehr blöd angemacht.“ Jetzt fing sie mit ihren Dehnübungen an. „Aber das weißt du bestimmt auch.“ Ich sah sie schweigend an. Mein offener Mund verlangte eine Erklärung. „Ich meine damit deinen schlabbrigen Jogginganzug. Und deine Haaransätze könnten auch wieder etwas Farbe vertragen.“ Ich packte ihre Hand, noch bevor sie ihre Finger in meinem Haar versenken konnte. „Ist das deine Naturfarbe?“ Ich streifte mir mit der Hand über die Haare, als wollte ich meine Naturhaaransätze vor ihr verstecken. Dann fiel ihr endlich auf, dass ich sie immer noch am Handgelenk hielt. Sie wurde plötzlich ernst und blickte verlegen zum Boden. „Entschuldige bitte.“ Irgendwie ging ich wohl nicht mit der Zeit, oder mein Kopf hat von den vielen Bruchlandungen einen Schaden davon getragen. Ich starrte sie schon wieder mit offenem Mund an und wartete, was sie diesmal für eine Erklärung präsentieren würde. „All diese Männer. Jeder von ihnen denkt, es sei seine Bestimmung und es läge nur in seiner Macht, dafür zu sorgen, dass ich wieder Gefallen am Sex mit Männern finde. Und nun musste ich erkennen: Ich bin um nichts besser.“ Ich ließ ihre Hand los und wischte mir mit meinen beiden Händen übers Gesicht. Eigentlich fehlte mir noch die Kraft, um solche Geständnisse zu ertragen. „Ich dachte, wenn du mich einmal näher kennenlernst, könntest du …“ Sie wendete sich von mir ab, um mir nicht mehr in die Augen sehen zu müssen. „Mein Gott, ist mir das jetzt peinlich.“ Mir war es egal. Wenigstens in diesem Moment. Ich musste mich dringend hinsetzen, tat es aber nicht. Ich fürchtete, später nicht mehr aufstehen zu können. „Weißt du? Als du mich damals angequatscht und nach der Uhrzeit gefragt hast? Da dachte ich, es wäre nur eine Masche …“
„So wie bei den Männern“, vervollständigte ich ihren Gedanken.
„Ja. Ich dachte, du würdest nur ins Gespräch kommen wollen.“ Wollte ich auch, aber das sollte sie nicht erfahren.
„Nicht alle Frauen, die nach der Uhrzeit fragen, sind lesbisch.“ Sie nickte zustimmend.
„Das habe ich mittlerweile erkannt. Entschuldige bitte, wenn ich dich belästigt haben sollte …“
***
„Wieder ein Semester erfolgreich abgeschlossen“. Ich schloss kurz meine Augen, damit er meinen entsetzten Blick nicht sehen konnte.
Hat frau denn nirgendwo ihre Ruhe?
„Gratuliere!“ Ich musste mich zu einem Lächeln zwingen, auch wenn ich mich innerlich tatsächlich sehr für ihn freute.
„Magst du
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