Gerechte Engel
sicher, dass Haydee Charis dann umgebracht, die Leiche im Bestattungsinstitut gelassen und Alexander Bulloch in seinem Schlafzimmer aufgesucht hat, wo sie ihm schließlich befahl, die Leiche zu verbrennen. Vermutlich redete sie ihm auch ein, das Baby sei von ihm, und versprach ihm, mit ihm durchzubrennen, wenn er dies für sie tue. Alexander verbrannte also die Leiche, Haydee verschwand ohne ihn aus der Stadt, und der arme Kerl verbrachte einige Jahre in einer Einrichtung, die man euphemistisch als Sanatorium bezeichnete.«
»Und die Polizei kann nichts von alldem beweisen?«, fragte Antonia.
»Die können wahrscheinlich alles beweisen, bloß nicht, wer Charis ermordet hat«, erwiderte Bree. »Von Haydee werden sie jedenfalls kein Geständnis bekommen. Dafür ist sie viel zu gerissen. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Haydee sie getötet hat. Aus den Krankenhausakten und aus dem Autopsiebericht geht hervor, dass die Verletzungen bei beiden Frauen nahezu identisch waren. Wer außer Haydee selbst hätte Charis denn genau diese Verletzungen zufügen können?«
Antonia fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Aber war der Autopsiebericht denn auch gefälscht, Bree? Du hast gesagt, Charis Jefferson sei Afroamerikanerin gewesen. Haydee Quinn ist aber eine Weiße.«
»Einem Coroner wär’s damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass eine schwarze und eine weiße Frau innen gleich aussehen«, sagte EB. »Die Leiche war ja stark verbrannt.«
»Soll das ein Witz sein?«, gab Antonia verblüfft zurück.
»Fragen Sie Ihre Schwester, Tonia«, erwiderte EB. »Die wird’s Ihnen bestätigen.«
Bree nickte. »Du hast nie den Rassismus alten Stils kennengelernt, Tonia. Der Polizeichef wird ein bisschen Druck ausgeübt haben, um die Autopsie und das Begräbnis so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Du hältst das nicht für möglich? Ich schon. Charis war eine Frau, hatte das gleiche Alter wie Haydee und ungefähr auch die gleiche Größe. Mehr hätte ein Coroner, der es einfach nur hinter sich bringen wollte, nicht wahrgenommen.« Bree stand auf und reckte sich. Allmählich machte sich bemerkbar, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. »Ich muss heute Nachmittag noch etwas erledigen. Wir sehen uns dann später.«
»Hey!« Antonia pochte mit den Knöcheln auf den Tisch. »Wieso hat Craig Oliver denn nun Florida Smith umgebracht?«
»Florida war der Wahrheit zu nahe gekommen. Sie fand die Sache mit dem weißen Buick heraus, der Haydee vom Nachtclub abgeholt hatte, stellte auch noch fest, dass der Buick Creighton Oliver gehört hatte, und rief daraufhin am Sonntagabend Craig an. Worauf Craig seine Mutter anrief. Nachdem Sammi-Rose Waterman Flurry am Montag eins über den Kopf gegeben hatte, nutzte Justine beziehungsweise Haydee die Gelegenheit und stellte Flurry im Wohnwagen zur Rede. Craig Oliver behauptet, Flurry habe sich das Manuskript geschnappt, sei aus dem Wohnwagen gerannt und dann in den Fluss gefallen. Ich persönlich glaube allerdings, dass Haydee sie hineingestoßen hat und Craig davon abhielt, um Hilfe zu rufen. Jedenfalls hatten sie das Manuskript.«
»Waren Wasserspuren dran?«, fragte EB.
Bree lächelte gezwungen. »Keine einzige.« Sie hatte ihre Tragetasche in der Nähe des Küchentisches auf den Fußboden gelegt. Sie hob sie auf und hängte sie sich über die Schulter. »Ich habe noch eine letzte Sache zu erledigen. Bis bald.«
Die meisten Friedhöfe Savannahs waren gut gepflegt und strahlten Ruhe und Frieden aus. Für den Friedhof in Belle Glade traf das allerdings in keiner Weise zu. Er war äußerst ungepflegt, die Gräber wirkten vernachlässigt oder vergessen. Bree blieb eine Zeitlang vor dem schmiedeeisernen Tor stehen. Unter einer Eiche erblickte sie Justine, die, halb hinter herabhängenden Bartflechten verborgen, einen kleinen Grabstein anstarrte.
Bree trat durch das Tor und folgte dem mit Unkraut überwucherten Kiespfad, der sich zwischen den Grabsteinen entlangschlängelte. Als sie den weinenden Engel an Haydees Grab erreicht hatte, machte sie halt, um mit der Hand über einen der Marmorflügel des Engels zu streichen.
Als Bree sich näherte, blickte Justine verblüfft auf.
»Offenbar überrascht es Sie, mich zu sehen«, sagte Bree.
»Was wollen Sie?«, fauchte Justine.
»Haben Sie denn gedacht, ich würde die Dinge auf sich beruhen lassen?«
Justine fingerte an der Pfauenbrosche herum, die an ihrem Revers steckte. »Sie können nichts
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