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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Korrespondenztheorie, sondern eine ganz andere Theorie ergeben würde?
    Im siebten Kapitel waren wir im Zusammenhang mit dem beliebten, sich auf mentale Zustände berufenden Interpretationsansatz mit einer ganz ähnlichen Frage konfrontiert. Ich habe dort zwei Sichtweisen unterschieden. Die erste besagt, daß jener Ansatz Interpretation erschöpfend beschreibt und Wahrheit daher im Zusammenhang mit Interpretation immer eine Frage der Korrespondenz mit einem mentalen Zustand ist, etwa mit der Absicht eines Dichters oder Gesetzgebers. Das aber würde bedeuten, daß keine Aussage wahr genannt werden kann, wenn es, wie es im Rahmen interpretativer Genres wie dem Recht und der Geschichtsschreibung häufig der Fall ist, keine mentalen Zustände gibt, die sie wahr machen könnten. Die zweite Sichtweise besagt, daß jener Ansatz nur für bestimmte Genres der kollaborativen Interpretation zutrifft, etwa für die Interpretation im Gespräch, und zwar deshalb, weil es sich um die Anwendung eines abstrakteren Ansatzes handelt, den ich hier die Werttheorie genannt habe, die auch zu all jenen anderen Genres paßt. Ich habe versucht, diese zweite Sichtweise zu verteidigen. Im Rahmen bestimmter Genres ist es äußerst erhellend, sich auf mentale Zustände zu beziehen, während es in anderen fehl am Platze ist, und die abstraktere Werttheorie erklärt, welches Genre zu welcher Kategorie gehört und warum.
    299 Ich will nun im Hinblick auf Wahrheitstheorien dieselbe Unterscheidung treffen. Auf den ersten Blick haben wir vielleicht den Eindruck, daß eine Korrespondenztheorie der Wahrheit (oder eine mit ihr konkurrierende Kohärenztheorie) den Begriff der Wahrheit erschöpfend erklärt und Bedingungen festlegt, die Urteile in allen Bereichen erfüllen müssen, um als wahr zu gelten. Das würde bedeuten, daß wir jeden Bereich scheinbar intellektueller Tätigkeit, auf den die anspruchsvolle Wahrheitsauffassung, für die wir uns entschieden haben, nicht anwendbar ist, als nicht wahrheitsfähig disqualifizieren würden – zum Beispiel könnte das die Mathematik oder die Moral betreffen. Wir könnten statt dessen aber auch versuchen, ein sehr abstraktes Verständnis der Wahrheit und der mit ihr verbundenen Ideen der Wirklichkeit, Objektivität, Verantwortung, Ehrlichkeit und so weiter zu entwerfen, das es uns erlauben würde, verschiedene weniger abstrakte Theorien als mögliche Erklärungen von Wahrheit in bestimmten Bereichen, in denen Wahrheitsansprüche eine Rolle spielen, auszuarbeiten.
    Wenn wir uns für dieses zweite Vorgehen entscheiden, würden wir die verschiedenen Wahrheitstheorien, die uns in der Philosophie zur Verfügung stehen und die auf Redundanz, Korrespondenz, Kohärenz oder pragmatische Gesichtspunkte verweisen, als Versuche verstehen, einen abstrakteren Wahrheitsbegriff auf einen bestimmten Bereich (oder auf mehrere Bereiche) anzuwenden, ebenso wie wir den Ansatz der Autorintention als Kandidaten einer Theorie interpretativer Wahrheit betrachten, die nur für bestimmte Genres gelten soll. Ein Vertreter einer bestimmten Wahrheitstheorie kann dann behaupten, daß seine Theorie die beste Anwendung jener abstrakteren Theorie auf ein bestimmtes Feld, etwa die Wissenschaft, darstellt, ohne damit zugleich zu sagen, daß dieselbe Theorie jene abstrakte Theorie auch erfolgreich auf andere Bereiche anwendet.
    Die erste, monolithische Strategie ist bisher sehr erfolgreich gewesen. Philosophen haben bestimmte Wahrheitstheorien vorgeschlagen, die für die Wissenschaft sehr gut geeignet waren,
300 und dann erklärt, daß zum Beispiel die Moral nicht wahrheitsfähig ist, weil sie es im Rahmen jener Theorie nicht sein kann. Im ersten Teil habe ich auf eine fatale Schwäche dieser Theorie hingewiesen. Wir können die These, daß die Aussage, Folter sei verwerflich, falsch ist, nur als eine Zurückweisung der Behauptung verstehen, daß Folter verwerflich ist, und letzteres setzt nicht nur Wahrheitsfähigkeit voraus, sondern beinhaltet zudem die Behauptung, daß ein bestimmtes moralisches Urteil wahr ist. Auch der mit einigen Verrenkungen konstruierte rätselhafte Gedanke, daß es weder wahr noch falsch ist, daß Folter verwerflich ist, kann nur so verstanden werden, daß damit das moralische Urteil für wahr erklärt wird, daß all jene, die Folter für verwerflich halten, damit unrecht haben. Anschließend habe ich verschiedene Versuche, dieses Paradox zu vermeiden, untersucht und verworfen und dabei auf zunächst raffinierter

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