Gerechtigkeit fuer Igel
wirkende Versionen des Skeptizismus wie etwa die Zwei-Sprachspiele-Strategie hingewiesen. All diese Versuche scheitern aber, weil sie es unmöglich machen, irgendeinem Diskurs die Wahrheitsfähigkeit abzusprechen, sei es per se , sei es aus erklärender oder aus philosophischer Sicht. Aus diesem Grund ist diese erste Strategie nicht für Wahrheitstheorien geeignet.
Wir müssen uns also für die zweite entscheiden. Das hat den unmittelbaren Vorteil, daß ein solches Vorgehen für ein breiteres Spektrum an Praktiken geeignet ist, in denen die Begriffe der Wahrheit und Wahrhaftigkeit nun eine wichtige Rolle spielen können. Die Tugenden, die unter dem Begriff »Wahrhaftigkeit« zusammengefaßt werden – Ehrlichkeit, Authentizität, intellektuelles Verantwortungsbewußtsein und all die anderen –, sind nun nicht länger nur im Bereich der Naturwissenschaft und der Psychologie von Belang, sondern auch in dem der Moral, des Rechts und anderen Bereichen der Interpretation. Die erste Strategie kommt nämlich der Interpretation nicht wirklich entgegen, weil es nicht besonders sinnvoll erscheint, einen Großteil dessen, was interpretiert werden soll, von Anfang an
301 auszuschließen. Hingegen beginnen wir im Rahmen der zweiten mit einer Bestandsaufnahme aller Daten.
Vielleicht würde es diese zweite Strategie plausibler erscheinen lassen, ein sehr abstraktes Verständnis der Wahrheit vorschlagen zu können, das in allen Genres Anwendung finden kann – also in der Wissenschaft, der Mathematik, der Philosophie und der Sphäre der Werte –, in denen ständig Wahrheit beansprucht wird, aber es könnte auch sein, daß das gar nicht unbedingt nötig ist. Man könnte die Wahrheit als weitreichenden interpretativen Begriff auch untersuchen, indem man sich mit den jeweiligen Paradigmen in den verschiedenen Bereichen befaßt, ohne eine allgemeine abstrakte Formulierung auszuarbeiten. Auf diese Möglichkeit habe ich in diesem Kapitel schon mit Bezug auf die Gerechtigkeit verwiesen. Dennoch wäre es hilfreich, eine sehr abstrakte Formulierung für diesen Wahrheitsbegriff zu finden, die unabhängig von konkreten Bereichen intellektueller Tätigkeit ist und erklärt, warum sich die Maßstäbe, die in den verschiedenen Bereichen zur Anwendung kommen, trotz ihrer Unterschiedlichkeit alle auf das Streben nach Wahrheit beziehen.
Eine solche Formulierung müßte noch abstrakter sein als die im siebten Kapitel vorgeschlagene Werttheorie, weil es sich bei letzterer um eine Theorie der Wahrheit von Interpretationen handelt, die ja als Anwendung jener abstrakteren Wahrheitstheorie auf den ganzen Bereich der Interpretation verstanden werden müßte. Diese abstrakteste Wahrheitstheorie dürfte aber nicht rein formal sein – eine Platitüde reicht hier nicht. Eine solche Theorie müßte, wenn sie denn möglich wäre, auch etwas leisten: Sie müßte zu allen Tätigkeiten, in denen es um Wahrheit geht, und den mit ihnen Hand in Hand gehenden Praktiken der Wahrhaftigkeit passen und sie rechtfertigen. Das ist eine schwere Aufgabe, und ich weiß nicht, wie man ihr gerecht werden kann.
Lassen Sie mich an dieser Stelle aber einen provisorischen und unvollständigen Vorschlag machen. Vielleicht können wir
302 eine geeignete abstrakteste Theorie entwerfen, indem wir »Untersuchung« und »Wahrheit« als zusammengehörige und miteinander verflochtene Begriffe verstehen, um dann die Wahrheit, wie ich es im letzten Kapitel versucht habe, als intrinsisches Ziel der Untersuchung zu charakterisieren. Unsere abstrakteste Beschreibung der Wahrheit wäre also, daß es sich dabei um eine auf einzigartige Weise erfolgreiche Reaktion auf die Herausforderung einer Untersuchung handelt. Dann könnten wir diesen Gedanken mit Hilfe passender konkreterer Formulierungen auf die unterschiedlichen Bereiche anwenden.
18 Diese verschiedenen Darstellungen wären ineinander eingebettet. Die Werttheorie wäre dann ein Vorschlag, wie man jenen Erfolg im gesamten Bereich der Interpretation verstehen kann, und die Theorie der moralischen Verantwortung, die ich im sechsten Kapitel erläutert habe, würde die Werttheorie auf die Moral als einen Unterbereich der Interpretation anwenden. Für die Wissenschaft müßte man dann ein anderes Verständnis der Wahrheit erarbeiten. Im siebten Kapitel habe ich zwei Auffassungen von Wahrheit auf einer sehr abstrakten Ebene unterschieden – ich habe dort erklärt, daß ein solcher Erfolg im Bereich der Interpretation über den Zweck
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