Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
Vom Netzwerk:
besonders hohen Wert beimessen, könnte es sein, daß wir trotz dieses Wissens denken, daß er die
338 richtige Entscheidung getroffen hat. Obwohl es nicht geklappt hat und er ein besseres Leben gehabt hätte, wenn er es nie versucht hätte, sind wir nach Abwägung aller ethisch relevanten Gesichtspunkte der Meinung, daß er die richtige Entscheidung getroffen hat. Ich gebe zu, hier ein etwas extravagantes Beispiel gewählt zu haben. Menschen, die im Dienste ihres Genies hungern, eignen sich zwar gut dazu, eine philosophische Überlegung zu illustrieren, aber es gibt sie nicht wie Sand am Meer. Man könnte dasselbe Muster jedoch in Hunderten viel alltäglicheren Varianten wiederfinden – denken Sie etwa an einen Unternehmer, der beschließt, eine Erfindung zu fördern, die zwar riskant, aber außerordentlich wichtig ist, oder an Skifahrer, die mit der Gefahr spielen. Aber ob wir nun selbst zu dem Gedanken neigen, daß eine gelungene Lebensführung manchmal erfordert, ein wahrscheinlich schlechteres Leben zu riskieren, oder nicht, ändert nichts daran, daß das durchaus der Fall sein könnte. Eine gelungene Lebensführung ist nicht dasselbe, wie die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, das bestmögliche Leben zu führen. Die Ethik ist ebenso komplex wie die Moral.
    Unmoralisches Handeln und moralischer Zufall
    Unsere ethische Verantwortung ist ebenso kategorisch wie unsere moralische Verantwortung, und darum empfinden wir eine mißlungene Lebensführung nicht nur als bedauerlich, sondern machen sie uns zum Vorwurf. Wenn Menschen wie Sydney Carton oder Iwan Iljitsch an ihrem Leben verzweifeln, ist das kein Selbstmitleid über ihnen zugestoßenes Pech, sondern eine Art Selbstgeißelung für Schwäche und Trägheit in Cartons Fall und für eine fatale ethische Fehlentscheidung in Iljitschs Fall. Wir sind nicht bloß passive Gefäße, in denen ein gutes Leben entweder stattfindet oder nicht.
    Wenn ich ein schlechtes Leben habe, bedeutet das nicht immer, daß mir meine Lebensführung mißlungen ist, und die Tat
339 sache, daß die beiden Ideale auf diese Weise auseinanderfallen können, gehört zu den wichtigsten Ergebnissen jener Differenzierung. Ich habe ja bereits angesprochen, daß ein Mensch, an dessen Lebensführung nichts auszusetzen ist, letztendlich durchaus ein schlechtes Leben haben kann, wenn ein großes Wagnis, das er eingegangen ist, nicht zum Erfolg führt. Allgemeiner gesprochen kann ein Leben einer gelungenen Lebensführung zum Trotz schiefgehen, weil unsere Lebensqualität nicht nur von unseren eigenen Entscheidungen und Anstrengungen abhängt, sondern auch ganz maßgeblich von äußeren Umständen und vom Zufall. Wenn ein Mensch in außerordentlich armen Verhältnissen oder als Mitglied einer von anderen gehaßten Bevölkerungsgruppe geboren wird, schwere Behinderungen hat oder sehr früh stirbt, bedeutet das eine Verschlechterung seines Lebens, auf die er keinen Einfluß hat. Man kann aber dieselbe Unterscheidung auch umgekehrt anwenden: Jemand kann ein sehr gutes Leben haben, ohne daß wir von einer gelungenen Lebensführung sprechen würden. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, daß Ihnen das von großen Errungenschaften, Raffinesse, Kultiviertheit und Genuß geprägte Leben eines Medici-Prinzen, wie es in Geschichtsbüchern geschildert wird, zunächst besonders erstrebenswert erscheint. Dann aber erfahren Sie, daß sein Erfolg auf Mord und Betrug im großen Stil aufgebaut war. Wenn wir an der Ansicht festhalten, daß eine gelungene Lebensführung einfach darin besteht, ein gutes Leben zu haben, müßten wir entweder sagen, daß er sein Leben auf die richtige Weise geführt hat, was ungeheuerlich klingt, oder auf den zweiten Blick zu dem Ergebnis kommen, daß er kein gutes Leben hatte, weil es aufgrund seines unmoralischen Verhaltens viel schlechter war, als es ansonsten gewesen wäre.
    Wenn wir uns für letzteres entscheiden, kehren wir im Grunde zu der wenig plausiblen und von uns eben erst zurückgewiesenen Sichtweise zurück, daß unmoralisches Handeln ein Leben insgesamt immer und notwendigerweise verschlechtert. Aber an jedem auch nur einigermaßen überzeugenden Maß
340 stab gemessen, hatte der Prinz ein besseres Leben, als wenn er seiner moralischen Verantwortung peinlich genau entsprochen hätte. Daraus folgt aber nicht, daß seine Lebensführung richtig war. Er wurde seiner ethischen Verantwortung nicht gerecht, denn er hätte all jene Verbrechen nicht begehen und sich mit dem weniger

Weitere Kostenlose Bücher