Gerechtigkeit fuer Igel
Verantwortung zentralen Fähigkeiten erworben haben – also die Fähigkeit, wahre Meinungen zu bilden und unsere Entscheidungen mit unseren Werten in Einklang zu bringen –, oder in Phasen, in denen wir sie eingebüßt hatten (falls wir im nachhinein bestimmte Entscheidungen als solche identifizieren können), zählt nicht. Zumindest die zuletzt genannten Entscheidungen spielen jedoch bei der Frage, ob wir ein gutes Leben gehabt haben, eine Rolle. Eine vorübergehende Geistes-, Gemüts- oder Zwangskrankheit kann das gute Leben beschädigen. Wenn wir jedoch die davon zu unterscheidende Frage beantworten wollen, ob die Lebensführung eines bestimmten Menschen gelungen war oder nicht, berücksichtigen wir diese entscheidungsschwachen Momente nicht. Bei einer Person, die ihr ganzes Leben über psychisch in erheblichem Maße eingeschränkt ist, kann man nicht im ethisch relevanten Sinn von Lebensführung sprechen. Man würde sie zwar aufgrund des furchtbar eingeschränkten Lebens, das sie ertragen mußte, bemitleiden, ihr aber keine Vorwürfe machen und auch nicht denken, daß sie sich im Fall einer Genesung selbst Vorwürfe machen würde.
In dieser abstrakten Beschreibung scheint das System der Verantwortung unkontrovers; zumindest kann es als weithin akzeptiert gelten. Sobald wir es aber genauer ausbuchstabieren, wird das System zunehmend kontrovers. So besteht etwa Uneinigkeit darüber, ob Personen, die blind vor Wut ihren Impul
386 sen nicht widerstehen können, die unter Androhung schwerer Übel dazu gezwungen werden, gegen ihre eigenen Überzeugungen zu handeln, oder deren Sinn für richtig und falsch durch Gewaltdarstellung im Fernsehen verzerrt worden ist, reflexiv verantwortlich genannt werden können. Eine überzeugende Theorie der Verantwortung muß erklären, warum das System der Verantwortung abstrakt betrachtet so großen Anklang findet, während es in seinen Einzelheiten höchst umstritten ist.
Zwei Verständnisse von Kontrolle
Auch wenn das nicht offen zutage liegt, umfaßt das System der Verantwortung ethische Prinzipien, die die Ursachen unserer Entscheidungen mit unserer Verantwortung für diese Entscheidungen verbinden – mit anderen Worten, genau das, was wir suchen. Um welche Prinzipien handelt es sich dabei? Dies ist eine interpretative Frage, wie sie uns in diesem Buch schon mehrfach begegnet ist. Wir müssen fragen: Welche ethischen und moralischen Prinzipien stellen die beste umfassende Rechtfertigung des Systems dar? Hier kann leicht der Eindruck entstehen – und ich denke, daß dies die weithin geteilte Meinung ist –, daß das stärkste Argument für den Inkompatibilismus auf diese Weise gefunden werden kann. Dieser Sichtweise zufolge können wir unsere alltäglichen Überzeugungen hinsichtlich unserer reflexiven Verantwortung nur rechtfertigen, wenn wir jene Verantwortung von den letzten Ursachen unserer Handlungen abhängig machen.
Lassen Sie uns diese Behauptung genauer prüfen, indem wir ein Gedankenexperiment durchführen. Stellen Sie sich vor, daß sich der Determinismus nicht nur als schlüssig, sondern auch als wahr erweist und wir feststellen, daß all unsere Gedanken und Handlungen aufgrund vorangehender Ereignisse, Kräfte oder Zustände, über die wir keine Kontrolle hatten, not
387 wendig sind. Würde eine solche Entdeckung die Pointe oder den Sinn unseres Systems der Verantwortung gefährden und, wenn ja, inwiefern? Wir müßten einsehen, daß sie unmöglich eine Veränderung unserer tatsächlichen Lebensweise bewirken kann. Nach dem ersten Schock kämen wir zu dem Ergebnis, daß wir im großen und ganzen so weiterleben müssen wie bisher und wären daher wie Charaktere in einem Theaterstück, die wissen, daß ihre Rollen im Drehbuch festgeschrieben wurden, ohne aber selbst über jenes Drehbuch zu verfügen – eine Variation der Situation in Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor . Wir wissen, daß wir nicht anders leben können, als es die Natur in der Rolle des Autoren entschieden hat, müssen aber nichtsdestotrotz dieses Leben leben: Wie Pirandellos Charaktere müssen wir immer noch von Minute zu Minute entscheiden, was wir tun sollen. Wir müssen nach wie vor entscheiden, was die besten Gründe sind und was sie von uns verlangen.
Ist es absurd, einfach weiterzumachen, obwohl wir nichts ändern können? Sind wir vergleichbar mit nikotin- oder alkoholabhängigen Menschen nicht dazu in der Lage, unsere Sucht nach Verantwortung zu überwinden? Der
Weitere Kostenlose Bücher