Gerechtigkeit fuer Igel
Entscheidungen sind.
Die beiden Prinzipien widersprechen einander. Wir können das eine nicht für wahr halten, ohne das andere abzulehnen. Wir können das Fähigkeitenprinzip nicht unter Berufung auf das Kausalprinzip zurückweisen. Zu behaupten, ersteres könne nicht richtig sein, da Menschen nicht für etwas verantwortlich sein können, das sie zu tun determiniert waren, würde das erst zu Beweisende bereits voraussetzen. Noch können wir das Kau
390 salprinzip zurückweisen, indem wir uns auf das Fähigkeitenprinzip berufen. Zu behaupten, das Kausalprinzip scheitere daran, daß die ethische Bedeutung einer Entscheidung von ihren Umständen und nicht von ihrer kausalen Herkunft abhängig ist, würde ebenfalls das erst zu Beweisende bereits voraussetzen. Wir benötigen hier stärkere Argumente, und diese können nur interpretativer Art sein.
Lassen Sie mich nun ein interpretatives Argument für das Fähigkeitenprinzip vorstellen. Meines Erachtens ist es viel besser dazu geeignet, unseren restlichen ethischen und philosophischen Überzeugungen Sinn zu verleihen. Das Kausalprinzip ist hingegen eine Art interpretatives Waisenkind: Wir können einfach keinen guten Grund finden oder konstruieren, warum es Teil unserer Ethik sein sollte. Es kann aber sein, daß Argumente hier letzten Endes vergeblich sind, weil Interpretationen in letzter Instanz eine Überzeugungsfrage sind und unsere Entscheidung für eines dieser beiden Prinzipien vermutlich tieferliegende Einstellungen und Dispositionen widerspiegelt, die Argumenten nicht zugänglich sind. Im neunten Kapitel sind wir einer sehr verwandten Frage begegnet: Ist das Leben absurd, wenn das Universum ein einziger großer Zufall ist? Dieses Problem und die Frage der reflexiven Verantwortung, die wir im Moment diskutieren, scheinen sich spiegelbildlich zueinander zu verhalten. Beide hängen aufs engste mit der Unabhängigkeit der Ethik von der Wissenschaft zusammen.
Ob ein Philosoph sich den Kompatibilisten oder den Inkompatibilisten anschließt, hängt davon ab, welches dieser beiden Kontrollprinzipen er annimmt und ob er dementsprechend die Ethik für unabhängig hält oder nicht. Die griechischen Tragödiendichter gingen von einer Variante des Fähigkeitenprinzips aus, denn ihre Helden waren selbst dann für ihr Handeln verantwortlich, wenn es von den Göttern bestimmt wurde.
11 Auch Aristoteles, Hobbes, Hume und, um nur einen prominenten Gegenwartsphilosophen zu nennen, Thomas Scanlon akzeptieren das Fähigkeitenprinzip.
12 Hume meint, ob jemand
391 die Kontrolle habe, hänge davon ab, ob er anders hätte handeln können, wenn er das gewollt hätte.
13 Diese Sichtweise wird manchmal unter Verweis darauf kritisiert, daß die entsprechende Person gar nichts anderes hätte wollen können als das, was sie tatsächlich tun wollte, wenn der Determinismus korrekt ist.
14 Dieser Einwand schießt jedoch am Ziel vorbei: Hume brachte eine ethisch unabhängige Einstellung zum Ausdruck. Scanlon hat einen von ihm so genannten »psychologischen« Test für Verantwortung vorgeschlagen und »den Inkompatibilisten« herausgefordert zu erklären, warum dieser Test nicht zufriedenstellend ist.
15 Dennoch gehen viele zeitgenössische Philosophen davon aus, daß das Kausalprinzip korrekt ist.
16 Ihres Erachtens kommt niemandem reflexive Verantwortung zu, wenn wir im Prinzip über eine vollständige externe Kausalerklärung dessen verfügen, was Personen wollen und tun.
Diese tiefreichende Meinungsverschiedenheit hat meines Erachtens noch eine weitere Dimension. Die von mir im neunten Kapitel skizzierte Idee der ethischen Verantwortung ruht auf einer grundlegenden Annahme: daß das menschliche Leben aufgrund der Weise, wie es gelebt wird, einen Wert haben kann. Diese Annahme scheint vorauszusetzen, daß selbstbewußte Wesen einen besonderen Status in unserem Universum haben: Sie sind nicht einfach ein weiterer Fall jener homogenisierten physikalischen Materie, die sie umgibt. Aber warum sind sie so besonders? Milliarden von Menschen finden eine Bestätigung für diese besondere Wichtigkeit in ihrer Religion. Sie sind der Ansicht, daß ein Gott uns in einem wunderbaren Gnadenakt einen freien Willen verliehen hat; oder daß zumindest unser Schicksal nicht von einer seelenlosen Mechanik, sondern von einer höheren Intelligenz bestimmt wird, die uns allein nach ihrem Bilde geschaffen hat. Der Deismus und Atheismus der Aufklärung haben den meisten Philosophen diesen Fluchtweg allerdings
Weitere Kostenlose Bücher