Gerechtigkeit fuer Igel
folgende Gedankengang könnte eine solche Charakterisierung unserer Situation attraktiv erscheinen lassen – wie sie vielen Philosophen attraktiv erschienen ist: Unser Verantwortungssystem besagt, daß wir nur dann verantwortlich sind, wenn wir Kontrolle über unser Verhalten haben, da wir nur dann unserem Leben ethischen Wert zu- oder absprechen können. Das erklärt, warum diesem System zufolge Handlungen unter dem Einfluß von Hypnose oder psychischen Krankheiten ausgenommen sind. Wenn aber der Determinismus wahr ist, hieße das, daß wir nie Kontrolle haben und daher unabhängig davon, wie wir uns verhalten, unter keinen Umständen diese Art von Wert schaffen können. Wir sind nichts als Marionetten, die so tun, als würden sie selbst die Fäden in den Händen halten.
Das ist aber etwas voreilig gedacht. Diese Argumentation
388 setzt nicht nur voraus, daß Kontrolle eine notwendige Bedingung von Verantwortung ist, sondern zudem ein ganz bestimmtes Verständnis dessen, was Kontrolle ist. Es wird vorausgesetzt, daß keine Kontrolle gegeben ist, wenn die Entscheidungen dieser Person durch äußere Kräfte determiniert werden, wie es dem Determinismus zufolge bei jedwedem Verhalten der Fall ist. Ich bezeichne dies als das »kausale« Verständnis von Kontrolle, da es die reflexive Verantwortung von den letzten, ursprünglichen Ursachen der Entscheidung abhängig macht. Demnach können wir nur von Kontrolle sprechen, wenn die Kausalkette, die erklärt, wie wir handeln, allein auf einen Impuls unseres Willens zurückführt statt auf weiter in der Vergangenheit liegende Zustände oder Ereignisse, die vor dem Hintergrund bestimmter Naturgesetze die fragliche Willenshandlung erklären.
Es gibt jedoch ein alternatives Verständnis dessen, was es heißt, Kontrolle zu haben. Diesem anderen Verständnis zufolge verfügt ein Handelnder über Kontrolle, wenn er sich dessen bewußt ist, daß er vor einer Wahl steht und dann eine Entscheidung trifft; wenn also niemand anderes jene Entscheidung durch oder für ihn fällt, und er über die Fähigkeit verfügt, wahre Meinungen über die Welt zu bilden und seine Entscheidungen mit seiner normativen Persönlichkeit – also seinen stabilen Wünschen, Ambitionen und Überzeugungen – in Einklang zu bringen. Dies ist das »Fähigkeitenverständnis« von Kontrolle.
Aus diesen zwei Verständnissen von Kontrolle lassen sich zwei unterschiedliche Prinzipien ableiten, die für die ethische Grundlegung des Systems der Verantwortung in Frage kommen: zum einen das Prinzip der kausalen Kontrolle und zum anderen das der Fähigkeitenkontrolle. Dem ersten Prinzip zufolge ist Kontrolle im Sinne von Verursachung wesentlich für Verantwortung; dem zweiten zufolge Kontrolle verstanden als Fähigkeit. Zahlreiche Philosophen gehen davon aus, daß das erste Prinzip offensichtlich korrekt ist und das zweite nur ein
389 Ausweichmanöver darstellt – eine Annahme, die von vielen Nichtphilosophen geteilt wird.
10 Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Prinzipien aber auf noch grundlegendere Weise. Sie gehen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Wesen, den Sinn und sozusagen den Ort der reflexiven Verantwortung einher.
Das Kausalprinzip betrachtet die Frage der Verantwortung von einem Standpunkt, der dem alltäglichen Verständnis, das der Handelnde von seiner eigenen Situation hat, äußerlich ist. Es verlangt von uns, von unserem täglichen Leben zurückzutreten und unsere Situation wie ein allwissender Gott zu betrachten. Damit wird unser Geistesleben in den Kontext der natürlichen Welt gestellt. Wir sollen versuchen, unsere Entscheidungsprozesse so zu erklären, wie wir das Funktionieren unserer inneren Organe erklären. Das ethische Urteil über Verantwortung wird so an das wissenschaftliche Urteil über Verursachung gebunden. Im Gegensatz dazu lokalisiert das Fähigkeitenprinzip Verantwortung innerhalb des Rahmens unseres alltäglichen Lebens, wie es in der persönlichen Perspektive gelebt wird. Es geht von der Annahme ethischer Unabhängigkeit aus, also davon, daß unseren bewußten Entscheidungen im Prinzip eine fundamentale und unabhängige Bedeutung zukommt und daß diese Bedeutung in keiner Weise von irgendeiner abseitigen kausalen Erklärung abhängig ist. Selbst wenn wir Pirandello-Figuren sind, handelt es sich bei unseren Entscheidungen um wirkliche Tatsachen, und die Antwort auf die Frage, ob unser Leben gelungen ist oder nicht, hängt davon ab, wie gut diese
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