Gerechtigkeit fuer Igel
er es uns ermöglicht, etwas Wichtiges in den Blick zu nehmen, das die klassischen Ansätze geneigt sind zu ignorieren. Beginnen wir in der ersten anstatt in der dritten Person, so nehmen wir nämlich viel ernster, wie es sich anfühlt, mit einer Entscheidung konfrontiert zu sein.
Was auf dem Spiel steht
Im sechsten Kapitel haben wir verschiedene Arten und Formen der Verantwortung unterschieden. Dort stand die Verantwortung als Tugend im Mittelpunkt, und nun will ich mich einer Form der relationalen Verantwortung zuwenden. Eine Person ist für eine Handlung reflexiv verantwortlich, wenn es angemessen ist, ihre Handlung an kritischen performativen Maßstäben – des Tadels und des Lobs – zu messen. Hier ist eine weitere Klärung der Terminologie hilfreich. In der Debatte über das Problem des freien Willens gibt es grob zwei Lager. Kompatibilisten sind der Ansicht, daß umfassende reflexive Verantwortung mit dem Determinismus vereinbar ist, während In
379 kompatibilisten das bestreiten. Manche Inkompatibilisten sind Optimisten: Sie halten unsere reflexive Verantwortung für echt, da sie aus wissenschaftlichen und/oder metaphysischen Gründen meinen, unser Verhalten sei nicht immer durch vergangene Ereignisse jenseits der Kontrolle des Handelnden determiniert. Andere sind Pessimisten: Ihres Erachtens ist jedwedes Verhalten durch vergangene Ereignisse determiniert, weshalb es unter keinen Umständen angemessen ist, jemandem reflexive Verantwortung zuzuschreiben. Kann das stimmen? Es ist wichtig, gleich zu Beginn festzuhalten, daß wir an diese Position nicht wirklich glauben können. Ich meine damit nicht einfach, daß wir es schwierig finden, diese Position für wahr zu halten, so wie wir es schwierig finden zu glauben, daß eine Geliebte uns betrogen hat oder daß Sklaverei letzten Endes für die Sklaven von Vorteil gewesen sein soll. Der Gedanke, daß man für seine eigenen Handlungen nicht verantwortlich ist, scheint nicht einmal im Rahmen eines Gedankenspiels vertretbar zu sein, weil man überhaupt keine reflektierte Entscheidung treffen kann, ohne zu beurteilen, welche Entscheidung die bessere wäre. Sie können zwar, nachdem Sie an einem Bettler vorbeigegangen sind, glauben, daß es Ihnen von jeher vorbestimmt war, ihn zu ignorieren, aber während Sie sich ihm nähern, können Sie weder den Gedanken noch die Tatsache zurückweisen, daß Sie eine Entscheidung zu treffen haben. Sie können sich nicht von sich selbst distanzieren und einfach dabei zusehen, wie Sie entscheiden. Sie müssen eine Entscheidung treffen. Wenn Sie plötzlich innehalten, um zu sehen, was passieren wird, wird tatsächlich nichts passieren, und selbst in diesem Fall haben Sie die Entscheidung getroffen, stehenzubleiben, und früher oder später werden Sie sich auch zu anderen Handlungen entscheiden.
Noch einmal: Wenn es nicht um etwas vollkommen Banales geht, können Sie keine Wahl treffen, ohne anzunehmen, daß eine bessere und eine schlechtere Entscheidung möglich ist. Sie können also nichts entscheiden, ohne davon auszugehen, daß
380 Ihre Entscheidung ein angemessenes Objekt der Selbstkritik darstellt. Der Gedanke »Was soll ich tun?« läßt sich nicht mit Gewalt von der Frage loseisen »Wäre es besser, sich für die eine Möglichkeit zu entscheiden oder für die andere?«. Es geht nicht unbedingt darum, ob moralische oder auch nur ethische Kritik angebracht ist, und tatsächlich ist das auch selten der Fall. Sie können Ihr eigenes Verhalten auch auf der Basis rein instrumenteller Überlegungen kritisieren: Können Sie es sich leisten, allen Bettlern, die Sie sehen, etwas zu geben? Selbst in diesem Fall messen Sie Ihre Entscheidung aber dennoch an einem normativen Maßstab und überlegen, welche Gründe Sie haben, auf bestimmte Weise zu handeln, statt mit dieser Handlung wie mit einem Muskelzucken oder einem Hustenanfall umzugehen.
Natürlich können Sie jede getroffene Entscheidung nachträglich anders darstellen und zum Beispiel sogar sich selbst gegenüber darauf bestehen, daß man Ihnen nicht zum Vorwurf machen könne, den Bettler ignoriert zu haben, und es auch nichts zu bereuen gibt, weil all das bereits festgestanden habe. Wenn Sie aber zu dem hier drohenden Ergebnis kommen, daß Sie keine reflexive Verantwortung für Ihr Handeln haben, geht das noch einen Schritt weiter. Das hieße nämlich zu behaupten, daß Ihre Entscheidung ebenso wie ein Hustenanfall, den Sie nicht aufhalten können, immer schon Ihrem kritischen
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