Gerechtigkeit fuer Igel
Urteilsvermögen entzogen war, und genau das können Sie im tatsächlichen Handlungsvollzug unmöglich denken. Aus der Perspektive der ersten Person gehört zum Entscheiden immer auch die Übernahme reflexiver Verantwortung. Beide sind intern miteinander verknüpft, und zwar unabhängig davon, worauf wir Entscheidung kausal zurückführen. Der pessimistische Inkompatibilismus ist daher keine intellektuell stabile Position. Er verlangt von uns, etwas zu glauben, was wir nicht glauben können. Sie könnten entgegnen: Ich kann sehr wohl an den pessimistischen Inkompatibilismus glauben, obwohl sich das nicht in meinem Handeln niederschlägt; ich tue einfach so
381 als ob. Das aber geht an meiner Argumentation vorbei: Es ist unmöglich, so zu handeln, als würden Sie an diese Position glauben, und daher fehlt Ihnen die Grundlage, um sich diese Überzeugung selbst zuzuschreiben.
Wie steht es um Urteile aus der Perspektive der dritten Person? Könnten wir fortfahren, andere Menschen wie bisher auch zu beurteilen, wenn wir den pessimistischen Inkompatibilismus akzeptieren? Wie ich bereits erwähnt habe, konzentrieren sich Philosophen für gewöhnlich auf Urteile aus der Perspektive der dritten Person: Inkompatibilisten argumentieren, daß wir niemanden für das, was er tut, tadeln oder bestrafen sollten, wenn der Determinismus wahr ist; in Galen Strawsons hyperbolischer Formulierung wäre es unfair von Gott, je einen Menschen in die Hölle zu schicken.
6 All das schließe aber viele andere ethische und moralische Urteile keineswegs aus. Wir könnten verbrecherisches Verhalten auch dann für moralisch falsch erklären, wenn der betreffende Mensch nicht für schuldig gehalten werden kann – oder wir könnten sagen, daß jener Mensch einen schlechten Charakter hat. Auch zu denken, daß jemand klug oder eben unklug gehandelt hat oder daß ein bestimmter Zustand besser ist als ein anderer, wäre nach wie vor möglich. Meines Erachtens ist das alles unzutreffend.
7 Die Moral ist ein integriertes Netz von Maßstäben und keine Ansammlung voneinander ablösbarer Module, die wir einzeln eliminieren könnten, ohne die Intaktheit des Rests zu zerstören. Reflexive Verantwortung ist der Schußfaden, der Moral zu einem Gewebe flicht.
Wenn es mir selbst dann, wenn ich akzeptiere, daß meine Handlungen prädeterminiert sind, unmöglich ist, zu glauben, daß mir keinerlei reflexive Verantwortung zugeschrieben werden kann, habe ich keinen Grund anzunehmen, daß dies auf andere zutrifft, nur weil ihre Handlungen im voraus feststehen. Manche Juristen und Kriminologen beharren darauf, daß wir das traditionelle Strafrecht samt seinem ganzen Apparat von Schuld und Strafe hinter uns lassen und durch therapeuti
382 sche Behandlung ersetzen müssen, weil Menschen nie für das verantwortlich sind, was sie tun.
8 Damit widersprechen sie sich jedoch selbst. Wenn niemand jemals reflexiv verantwortlich ist, dann sind auch Repräsentanten des Staates, die angeklagte Kriminelle für ihre Handlungen zur Verantwortung ziehen, nicht für ihre eigenen Handlungen verantwortlich, und daher wäre es falsch, ihnen vorzuwerfen, sie handelten unfair. Natürlich wäre es dann auch falsch von mir, jenen Juristen und Kriminologen vorzuwerfen, daß sie den Repräsentanten des Staates zu Unrecht Vorwürfe machen, da auch sie ja nicht verantwortlich sind. Ich muß mir das aber nicht vorwerfen, weil auch ich nicht verantwortlich bin. Und so fort. Zumindest zeigt dieser rekursive Unsinn, daß wir die ihm zugrundeliegende Annahme, daß niemandem von uns reflexive Verantwortung zukommt, nicht glauben können.
Es gibt jedoch noch eine weitere Schwierigkeit. Wenn der Determinismus tatsächlich unsere reflexive Verantwortung zunichte machen würde, wäre er auch nicht mit unserer intellektuellen Verantwortung vereinbar. Das würde aber bedeuten, daß es nicht verantwortlicher wäre, ihn für wahr zu erklären, nachdem wir die entsprechende Literatur gelesen, die Experimente durchgeführt und ein Jahrzehnt lang darüber nachgedacht hätten, als wenn wir einfach gewürfelt und Pech gehabt hätten. Wenn der pessimistische Determinismus wahr wäre, könnte niemand verantwortlich die eigene Entscheidung, ihn für wahr zu halten, als weise Entscheidung betrachten – weil es nie die Wahl gab, das nicht zu tun.
383 Sechs Milliarden Personen suchen ein Leben
Das System der Verantwortung
Die Tatsache, daß niemand wirklich an den pessimistischen Inkompatibilismus
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