Gerechtigkeit fuer Igel
versperrt, obwohl die Physik der Aufklärung die Gefahr sogar noch vergrößert hatte.
Nichtsdestotrotz könnten wir auf eine andere Art von Unab
392 hängigkeit von der natürlichen Welt hoffen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Wir könnten einerseits hoffen, daß unsere Entscheidungen und Handlungen tatsächlich frei im Sinne von unabhängig von den Kausalverhältnissen der physikalischen und biologischen Welt sind: daß wir also irgendwo, vielleicht in der noumenalen Welt, einen freien Willen haben, wie auch immer das genauer zu verstehen ist. Diese Hoffnung legt uns nahe, die externe Perspektive des Kausalprinzips einzunehmen, da sie nur in deren Rahmen eingelöst werden kann. Tun wir dies jedoch, so wird unsere Hoffnung anfällig für wissenschaftliche Entdeckungen und den metaphysischen Skeptizismus. Andererseits könnten wir aber auch der Auffassung sein, daß uns die Tatsache unseres Bewußtseins selbst zusammen mit der gewaltigen Herausforderung, ein Leben führen zu müssen, jenes Ausmaß an Würde verleiht, das wir benötigen und nach dem wir streben sollten. Das Universum mag wissen, was wir entscheiden, aber wir wissen es nicht. Also müssen wir uns mit unseren Entscheidungen abmühen und in dieser Perspektive schaffen wir Wert – den adverbialen Wert eines gelungenen Lebens – gerade und nur durch unsere Entscheidungen. Im Rahmen dieses zweiten Verständnisses unserer Würde könnten wir nun die lange zurückreichende Tradition der existentialistischen Philosophie neu interpretieren oder ihr zumindest das entnehmen, was am überzeugendsten ist. Jean-Paul Sartres Proklamation, unsere Existenz gehe unserer Essenz voraus, erhält so eine andere und plausiblere Bedeutung.
17 Beide Möglichkeiten haben ihre eigene emotionale Anziehungskraft. Welche erlaubt es uns, unseren restlichen Überzeugungen mehr Sinn zu verleihen?
393 Kausale Kontrolle?
Lassen Sie mich nochmals betonen, daß es sich bei den beiden sich widerstreitenden Prinzipien – dem Kausal- und dem Fähigkeitenprinzip – um ethische, und nicht um physikalische, biologische oder metaphysische Prinzipien handelt. Es ist keineswegs klar, welches von beiden besser zu unserem vertrauten System der Verantwortung paßt und es zu begründen vermag: Beide sind von herausragenden Philosophen vertreten worden. Wir müssen der interpretativen Frage also etwas ausführlicher nachgehen.
Beginnen wir mit der kausalen Kontrolle. Nehmen wir an, ich sei ein Erwachsener mit durchschnittlicher Intelligenz. Ich leide an keiner psychischen Erkrankung, und meine Entscheidungen passen im allgemeinen zu meinen Präferenzen und Überzeugungen. Ich sehe einen Bettler auf der Straße und frage mich, ob ich ihm etwas geben soll. Ich führe mir kurz die Gründe dafür und dagegen vor Augen. Er sieht hungrig aus; mir werden ein oder zwei Euro nicht fehlen. Er wird das Geld für Drogen ausgeben; ich habe bereits im Büro gespendet. Ich entscheide mich dagegen, ihm etwas zu geben, und laufe an ihm vorbei. Ich nehme an, daß ich für meine Handlung die reflexive Verantwortung trage, daß es also sinnvoll ist, wenn andere mich für meinen Geiz tadeln oder für meine gute Urteilskraft loben – oder wenn ich das selbst tue. Wenn das Kausalprinzip korrekt ist, hängt die Tragfähigkeit der Verantwortungszuschreibung jedoch vollkommen von der Wissenschaft oder einem Mysterium ab. Wenn meine Entscheidung kausal determiniert war durch Kräfte oder Ereignisse, die zeitlich vor meiner Geburt liegen, dann stellt sich mein Verantwortungsgefühl, wie unerschütterlich es auch sein mag, als bloße Illusion heraus. Wenn meine Entscheidung, an dem Bettler vorbeizulaufen, andererseits nicht durch irgend etwas in der Vergangenheit verursacht worden ist, wenn sie also eine spontane Intervention in die Kausalordnung darstellte, die von meinem
394 Hirn in meine Beine floß, dann trügt mein Verantwortungsgefühl nicht: Ich bin verantwortlich. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als fange das Kausalprinzip damit das Wesen der Verantwortung ein. Wenn äußere Kräfte mich dazu bringen, etwas zu tun, wie könnte ich dann selbst dafür verantwortlich sein? In anderer Hinsicht und ebenfalls auf den ersten Blick scheint das Prinzip jedoch willkürlich zu sein. Wie kann die Präsenz oder Absenz irgendeines physikalischen, biologischen oder metaphysischen Prozesses, dessen ich mir im Handeln gar nicht bewußt sein kann und der nicht Teil einer Beschreibung der zu meinem Handeln gehörigen
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