Gerechtigkeit fuer Igel
glauben kann, stellt selbst kein Argument gegen diese Position dar. Wir können auch Zenons »Beweis«, daß ein Pfeil sein Ziel niemals erreichen wird, nicht glauben, müssen aber trotzdem erklären, warum er falsch ist.
9 Vielleicht läßt sich kein guter Grund finden, das, was wir nicht glauben können, nicht zu glauben; vielleicht sind wir einfach zu dieser Art von Inkohärenz verdammt. Wie ich bereits gesagt habe, kann es durchaus sein, daß es keine konsistente und interpretativ überzeugende Theorie der reflexiven Verantwortung gibt. Ob das so ist, hängt jedoch von den ethischen und moralischen Fragen ab, um die es im folgenden gehen wird. Ohne Zweifel sind die Ursachen unserer Entscheidungen irgendwie relevant für unsere reflexive Verantwortung für diese Entscheidungen. Die Frage ist nur, wie. Lassen Sie mich hier noch einmal betonen, daß wir nach einem ethischen Prinzip suchen, das diese Verbindung herstellt.
Beginnen wir unsere Suche bei unseren alltäglichen Vorstellungen darüber, wann unsere reflexive Verantwortung erlischt oder nur eingeschränkt vorliegt. Führen Sie sich dazu die alltägliche Ökonomie der reflexiven Verantwortung vor Augen; mit anderen Worten die Art und Weise, wie wir tagein tagaus in der Praxis von dieser Idee Gebrauch machen. Gezieltes und überlegtes Handeln hat gewissermaßen eine Innenseite: Es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an. Wir beabsichtigen, etwas zu tun, und tun es. Es gibt einen Moment, in dem die Entscheidung feststeht, in dem die Würfel gefallen sind, und der Beschluß zu handeln eins wird mit der Handlung, für die wir uns entschieden haben. Dieses innere Erleben des überlegten Handelns zeigt den für unsere ethische und moralische Erfahrung wesentlichen Unterschied zwischen »handeln« und »einer äu
384 ßeren Einwirkung unterliegen« an, oder anders ausgedrückt zwischen schieben und geschoben werden. Wir halten uns für reflexiv verantwortlich für das, was wir tun, aber nicht für das, was uns zustößt: für zu schnelles Fahren, aber nicht dafür, vom Blitz getroffen zu werden. Unsere komplexeren Vorstellungen von Verantwortung stellen eine genauere Ausdifferenzierung dieser recht basalen Überlegungen dar.
Wir unterscheiden den Normalfall, wenn Menschen sich zu handeln entscheiden, nicht nur von Situationen, in denen etwas von außen auf sie einwirkt, sondern auch vom Handeln unter dem Einfluß einer anderen Person, sei es aufgrund von Hypnose oder hochtechnisierter Formen psychischer Fremdkontrolle, und dem Vorliegen eines relevanten psychischen Problems oder einer Krankheit. Im Fall geistiger Fremdkontrolle würden wir wohl sagen, daß in der Entscheidung nicht das Urteil oder die Absicht des Handelnden zum Ausdruck kommt, sondern desjenigen, der die Kontrolle hat. Im Fall psychischer Probleme denken wir, daß die entsprechende Person zwar ihrem eigenen Urteil oder ihrer eigenen Absicht gemäß gehandelt hat, aber trotzdem nicht verantwortlich gemacht werden sollte, weil ihr eine der dafür wesentlichen Fähigkeiten fehlte.
Wir können zwei solche Fähigkeiten unterscheiden. Erstens müssen Menschen, um verantwortlich zu sein, zumindest bis zu einem gewissen Grad in der Lage sein, wahre Meinungen über die Welt, die mentalen Zustände anderer Personen und die wahrscheinlichen Folgen ihres Handelns auszubilden. Jemand, der nicht begreifen kann, daß Menschen durch Schußwaffen Schaden zugefügt werden kann, ist nicht verantwortlich, wenn er jemanden erschießt. Zweitens müssen Menschen in einem normalen Ausmaß über die Fähigkeit verfügen, Entscheidungen zu treffen, die zu dem passen, was wir als ihre normative Persönlichkeit bezeichnen könnten: zu ihren Wünschen, Präferenzen, Überzeugungen, Bindungen, Loyalitäten und ihrem Selbstbild. Wir halten echte Entscheidungen für zielgerichtet und denken daher, daß eine Person, deren letztendliche
385 Entscheidungen mit keinem ihrer Wünsche, Pläne, Überzeugungen oder Bindungen in Einklang stehen, nicht zu verantwortlichem Handeln fähig ist.
Dieses hier sehr knapp skizzierte System der Verantwortung spielt für das im neunten Kapitel beschriebene ethische Projekt eine entscheidende Rolle. Ein gelungenes Leben zu führen bedeutet auch, die richtigen Entscheidungen zu treffen; wie gelungen unser Leben ist, hängt unter anderem davon ab, inwieweit wir in dieser Hinsicht erfolgreich waren. Hier ist aber nicht jede Entscheidung relevant: Was geschah, bevor wir die für das System der
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