Gerechtigkeit fuer Igel
einer Religion Gewalt gegen andere ausüben, gehen meist davon aus, daß die Leben ihrer Opfer gleichermaßen wichtig sind, oder zumindest leugnen sie das nicht. Sie erklären, ihr Vorgehen sei zur Rettung der unsterblichen Seelen ihrer Opfer oder zur Ausbreitung des wahren Glaubens und entsprechender Gebote unter ihren Mitmenschen notwendig oder einfach um eine tatsächliche oder imaginierte Schändung zu unterbinden. Um aber den ethischen Anspruch zu rechtfertigen, daß die Leben der Anhänger einer bestimmten Religion eine besondere objektive Wichtigkeit haben, genügt das nicht. Man müßte wahrscheinlich behaupten, ein parteiischer Gott, der kein Interesse an zum Glauben zu bekehrenden Menschen hat, habe jene religiösen Menschen besonders gesegnet. Natürlich wären auch andere Erklärungen denkbar, meines Erachtens wären sie aber mit einiger Wahrscheinlichkeit alle – zumindest was die monotheistischen Religionen angeht – mit anderen, ebenfalls vorhande
438 nen Glaubensüberzeugungen über die Ausdehnung und die Universalität der Aufmerksamkeit Gottes unvereinbar. Obwohl solche monströsen Vorstellungen also historisch viel zu verbreitet und einflußreich gewesen sind, können sie nicht verantwortlich verteidigt werden.
Wer sich selbst eine besondere Wichtigkeit zuschreiben will, muß noch eine weitere Hürde überwinden. Obwohl die Würde, wie ich im neunten Kapitel dargelegt habe, nach Anerkennungs- und nicht Wertschätzungsrespekt verlangt, besteht zwischen beiden ein wichtiger Zusammenhang: Wir können den Bereich der Selbstachtung zwischen den beiden aufteilen, denn daß Sie Ihr Leben für wichtig halten, ist eine Voraussetzung dafür, daß es von Bedeutung ist, wie Sie leben. Wenn sich herausstellen sollte, daß Hares fanatischer Nazi jüdisch ist, müßte er es für vollkommen gleichgültig halten, was er tatsächlich in oder mit seinem Leben getan hat. Nur wenige Menschen könnten einer solchen kontrafaktischen Entlassung aus der ethischen Verantwortlichkeit wirklich überzeugt zustimmen.
Und Nietzsche?
Kommt im Gedanken einer universellen objektiven Wichtigkeit nur eine biedere egalitär, liberal und demokratisch orientierte politische Empfindsamkeit zum Ausdruck? Hier ist es vielleicht instruktiv, sich dennoch zu fragen, ob der bekannteste philosophische Kritiker jener Empfindsamkeit die universelle Auffassung zurückweist. Nietzsche war, wie Sie wissen, der Ansicht, daß nur wenige Menschen – zu denen er sich selbst zählte – dazu in der Lage seien, ein wirklich bedeutendes Leben zu führen. Aber war er auch überzeugt, daß nur wichtig ist, wie diese wenigen kreativen Übermenschen leben, und es daher ohne Bedeutung ist, was mit dem Rest von uns geschieht – mit dem gewöhnlichen Gesindel, das sowieso nicht
439 zu einem bedeutenden Leben imstande ist? Diese beiden Positionen müssen voneinander unterschieden werden.
Die Interpretationen von Nietzsches Ideen gehen weit auseinander. Aber in einigen Lesarten hat Nietzsche sehr wohl die Grundzüge unserer bisherigen Argumentation akzeptiert – zumindest in einigen Teilen seines nicht immer konsistenten Werks. Tatsächlich scheint Nietzsche die Frage, ob eine Lebensführung gelingt, für unübertroffen wichtig zu halten. Seines Erachtens ist es eine Schande für den ganzen Kosmos, daß die Priester dem Rest der Welt eine Art von Moral auferlegt haben, die es unmöglich macht, ein gelungenes Leben zu führen – die Moral der Askese, die darin besteht, gegen die menschliche Natur anzukämpfen, statt sie zu feiern, und den Willen zur Macht, der nicht nur natürlich ist, sondern uns zu einem bedeutenden Leben drängt, zu sublimieren. Nietzsche fordert, daß wir uns selbst neu erschaffen, weil wir zum Teil durch diese Moral zu Menschen mit einer sklavischen statt auf heroischen Kampf zielenden Mentalität geworden sind.
Nietzsche lehnte es ab, die gelungene Lebensführung als nur subjektiv wichtig zu verstehen.
4 Wir müssen uns nicht nur von neuem erschaffen, weil wir zufälligerweise nach Größe streben, sondern weil alles andere ein Verrat an unserem menschlichen Erbe wäre. Ihm zufolge muß eine gelungene Lebensführung klar von einem guten Leben unterschieden werden. Sie kann in Nietzsches Sicht sehr wohl unermeßliches Leiden beinhalten, wie es auch bei seinem eigenen Leben der Fall war; gut kann ein solches Leben wohl kaum genannt werden. Außerdem betonte er, daß Integrität für eine gelungene Lebensführung von
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