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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Integrität
    Wenn wir das erste Prinzip der Würde so umformulieren, daß der objektive Wert eines jeden menschlichen Lebens deutlich zum Ausdruck kommt, gelangen wir zu dem, was ich als Kant'sches Prinzip bezeichnet habe. Aus demselben Grund, aus dem Sie das Gelingen Ihres eigenen Lebens für objektiv wichtig erachten, halten Sie auch das Gelingen des Lebens jeder anderen Person für wichtig. In der objektiven Wichtigkeit Ihres Lebens sehen Sie die objektive Wichtigkeit des Lebens jeder anderen Person gespiegelt. Aristoteles unterscheidet drei Formen der Liebe: die Freundschaft, die romantische Liebe und agape , was oft als »altruistische Liebe« übersetzt wird. Letztere gilt allen anderen Menschen
13 und obwohl sie die selbstloseste Form der Liebe ist, umfaßt sie auch die eigene Person, wie wir nun sehen können. Polonius mag ein alberner Schwätzer gewesen sein, aber der letzte Rat, den er seinem Sohn gab, war sehr tiefsinnig und bleibt es auch, wenn wir ihn umkehren: Wenn du anderen gegenüber nicht falsch bist, bleibst du letztlich auch dir selbst treu.
    Den Rest dieses Buches über werden wir uns mit der folgenden Frage befassen: Was folgt aus dem Kant'schen Prinzip dafür, wie wir uns gegenüber anderen Menschen zu verhalten haben? Auf den ersten Blick scheint Ihnen vielleicht aus der vollkommenen Akzeptanz der gleichen objektiven Wichtigkeit des Lebens aller Menschen zu folgen, daß Sie Ihr Handeln immer auf eine Verbesserung der Situation aller Menschen überall ausrichten müssen, wobei Ihr eigener Vorteil und der Ihrer Nächsten und Liebsten in Ihrer Kalkulation als gleichermaßen wichtig behandelt werden muß wie der Vorteil eines beliebigen Fremden irgendwo auf dieser Erde. Dies ist jedenfalls die Schlußfolgerung, die viele Philosophen, unter anderem die Utilitaristen, aus der gleichen Wichtigkeit ziehen. Wenn dem so wäre, wäre es uns Menschen – da wir keine Engel sind – so gut wie unmöglich, ein Leben zu führen, das den Forderungen unse
443 rer Selbstachtung gerecht wird. Das zweite Prinzip – das der Authentizität – schreibt einem jeden von uns die persönliche Verantwortung zu, in Übereinstimmung mit dem Charakter und den Vorhaben zu handeln, mit denen wir uns identifizieren. Dem gerecht zu werden und zugleich den Plänen und Vorhaben aller anderen Menschen mit demselben Interesse und derselben Aufmerksamkeit wie den eigenen zu begegnen, scheint die psychologischen Möglichkeiten fast aller weit zu übersteigen.
14 Die meisten Menschen sind sehr arm. Vielen von ihnen fehlt es selbst am zum Leben Notwendigen, was dieser Sichtweise zufolge bedeuten würde, daß jeder einigermaßen wohlhabende Mensch, um dem ersten Prinzip nachzukommen, alles spenden und selbst arm werden müßte. Fest steht zumindest, daß er sein Leben keinen anderen Vorhaben widmen könnte, wie zwingend ihm diese auch erscheinen mögen.
    Einige Philosophen haben in diesen sauren Apfel gebissen und erklärt, daß wir im Prinzip unser Bestes tun müssen, das Leben eines Heiligen zu führen, das von dieser anspruchsvollen Interpretation verlangt wird.
15 Andere Philosophen haben versucht, die Wirkung (wenn auch nicht die Forderungen) des ersten Prinzips zugunsten des zweiten abzuschwächen. Thomas Nagel zufolge können wir die Frage, wie wir leben sollen, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven angehen.
16 Bei der ersten handelt es sich um eine persönliche, von eigenen Interessen und Vorhaben geprägte Perspektive, bei der zweiten hingegen um eine unpersönliche, aus der jene eigenen Interessen, Ambitionen, Bindungen und Vorhaben nicht wichtiger sind als diejenigen beliebiger anderer Personen. Aus beiden Perspektiven können wir die Wahrheit erkennen; das Problem ist nur, daß jene Wahrheiten nicht miteinander vereinbar sind. Was aus der persönlichen Perspektive am meisten Sinn ergibt, wird oft einer der Forderungen der unpersönlichen Perspektive widersprechen. Wie sollen wir dann entscheiden, was wir alles in allem betrachtet tun sollen? Wie lassen sich diese beiden Perspektiven gegeneinander abwägen? Nagel zufolge haben wir ein ver
444 nünftiges Gleichgewicht erreicht, wenn eine Antwort von allen ganz unabhängig von ihrer jeweiligen persönlichen Situation als angemessen akzeptiert werden könnte. Obwohl er daran zweifelt, daß sich eine konkrete Balance bestimmen läßt, die diesen Test besteht, denkt er, hier auf jeden Fall das richtige Ideal gefunden zu haben.
17
    Wenn aber eine Balance oder ein Kompromiß

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