Gerechtigkeit fuer Igel
überragender Wichtigkeit sei: »die organisirende, die zur Herrschaft berufne ›Idee‹ […] leitet langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück , sie bereitet einzelne Qualitäten und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich erweisen werden, – sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen aus, bevor sie irgend Etwas von der dominirenden Aufgabe, von ›Ziel‹, ›Zweck‹, ›Sinn‹ ver
440 lauten lässt. – Nach dieser Seite hin betrachtet ist mein Leben einfach wundervoll.«
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Wir müssen hier natürlich fragen, ob Nietzsche der Ansicht war, daß diese Imperative für uns alle gelten oder nur für diejenigen, die zu wahrer Größe in der Lage sind. Zarathustra, über den er in der Frühphase seine Gedanken zum Ausdruck bringt, spricht nicht allein zu den Großen, sondern zu allen, auf die er trifft, zu all jenen, von denen er hofft, daß sie zu den zukünftigen und nicht zu den letzten Menschen gehören könnten – auch wenn er hier eher pessimistisch ist.
6 Sein »Geschenk« bringt er der ganzen Menschheit. »Eine Tafel der Güter«, so verkündet er, »hängt über jedem Volke«.
7 Nietzsche brachte seine Verachtung für Gleichheit, Demokratie und den Rest der von ihm so bezeichneten »Sklavenmoral« unverhohlen zum Ausdruck. Seine Kritik galt aber nicht der Annahme, daß es wichtig ist, wie ein jeder sein Leben führt, sondern hing damit zusammen, daß er die Antwort jener Moral auf die Frage, wie man sein Leben führen sollte, für verabscheuungswürdig hielt.
Für die Idee, daß eine gelungene Lebensführung auf ein glückliches Leben hinauslaufe, hatte Nietzsche nur Spott übrig. Besondere Verachtung empfand er für die Utilitaristen, deren Sichtweise nur unter der Voraussetzung, daß allein Lust und Glück zählen, verständlich sei.
8 (Er nannte das »englisch-engelhaftes Krämerthum«.
9 ) Für Nietzsche sind Lust und Glück so gut wie bedeutungslos. Er machte sich auch über Kantianer lustig, die dem menschlichen Leben einen intrinsischen Wert zuerkennen und annehmen, dieser Wert lasse sich nur in einem Leben der moralischen Pflichterfüllung verwirklichen.
10 Obwohl also Nietzsche die Moral, wie sie gewöhnlich verstanden wird, mit Sicherheit für einen fürchterlichen Fehler hielt, scheint mir nichts dafür zu sprechen, daß er es für unwichtig hielt, anstatt einfach für deprimierend, wie Menschen im allgemeinen leben. Ihm zufolge veranlaßt der Wille zur Macht alle Menschen, die ihn haben, in bestimmten Situationen dazu, wütend zu werden, auf den eigenen Vorteil bedacht
441 zu sein oder sich irgendwie auszeichnen zu wollen. All das sind menschliche Motive, die Nietzsche zufolge die meisten von uns nur mit großer Anstrengung und seines Erachtens tragischen Kosten zurückstellen oder sublimieren können. Nichts an der Idee des Willens zur Macht impliziert aber, daß jene Emotionen bei den sogenannten Herdenmenschen nicht bloß abwesend, sondern fehl am Platze sind.
Es gibt mindestens eine Interpretation, der zufolge Nietzsches Auffassung des guten Lebens als eine Art aggregativer Konsequentialismus verstanden werden muß: Er hielt es für wichtig, daß die besten Leben ihrem Potential gerecht werden, selbst wenn das bedeutet, daß die meisten Menschen in der Folge ein weniger gutes Leben haben.
11 Aber auch diese etwas seltsame Sichtweise würde keine subjektive Auffassung von der Wichtigkeit des Lebens voraussetzen, sondern im Gegenteil implizieren, daß bedeutenden Leben eine übergeordnete objektive Wichtigkeit zukommt, so daß uns nicht wirklich interessieren muß, wer diese letztendlich tatsächlich führt. Wenn ein Kunstkenner sich wünscht, daß große Meisterwerke geschaffen werden, selbst wenn das bedeuten würde, daß insgesamt weniger Gemälde produziert würden, wäre es ihm wahrscheinlich ziemlich egal, von welchem Künstler diese Meisterwerke geschaffen werden. In einer weiteren Interpretation ist zu lesen, daß Nietzsche »uns nicht widerspricht, wenn wir unsere eigenen Werte als universell gültig oder als wesentlich für jede Form menschlichen Wohlergehens ansehen […], auch wenn dies der weitverbreiteten Auffassung, daß Nietzsche sich gegen jede Form der Universalisierung wendet, entgegensteht«.
12 Wenn dem so ist, untermauert Nietzsches Haß auf die Alltagsmoral nur, daß eine gelungene Lebensführung bei allen Menschen wichtig, wenn auch vielleicht nicht immer möglich ist.
442 Zwei Strategien: Balance und
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