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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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zwischen zwei Perspektiven angestrebt wird, von denen wir beide als zur Wahrheit führend erachten, ist nicht klar, wie bei der Rechtfertigung einer bestimmten Lösung ein Zirkelschluß vermieden werden kann. Nehmen wir an, die Frage sei, wieviel von seinem Einkommen ein Universitätsprofessor vernünftigerweise spenden muß und wieviel er behalten kann, um etwa seinen Sommerurlaub in Europa zu verbringen. Es scheint unmöglich, hierauf eine Antwort zu geben, ohne einer der beiden von Nagel unterschiedenen Perspektiven Priorität zu geben: Was vernünftig ist, stellt sich aus der unpersönlichen Perspektive ganz anders dar als aus der persönlichen Perspektive eines Menschen, der unbedingt einen Urlaub braucht. Es gibt auch keine dritte Perspektive – etwa die der »Vernunft« selbst –, von der aus wir jene Balance finden können, weil wir uns auch um zu erkennen, was die Vernunft von uns verlangt, bereits für eine der beiden Perspektiven entscheiden müssen.
    Nagel schlägt also einen prozeduralen Test vor. Wir müssen Prinzipien zur Abwägung jener beiden Perspektiven entwickeln, die alle für vernünftig halten würden, wenn sie nur von dem Wunsch angetrieben wären, sich auf einen Maßstab zu einigen. (Nagel beruft sich hier zustimmend auf Thomas Scanlons moralischen Kontraktualismus.
18 ) Hinsichtlich unserer Chancen, solche Prinzipien ausfindig zu machen, ist Nagel zu Recht pessimistisch. Warum sollte ein Mensch, dessen Lage schlechter ist als die eines anderen, nicht darauf bestehen, daß angesichts der gleichen Wichtigkeit aller menschlichen Leben nur ein Prinzip, das eine gleiche Verteilung des materiellen Reichtums fordert, vernünftig wäre? Und würde darauf der an
445 dere, etwas besser gestellte Mensch nicht antworten, daß es unvernünftig wäre, alle nur durch ungleiche Verteilung der Güter ermöglichten Leistungen und allen ebensolchen Genuß aufzugeben? Die unrealistische Prämisse, daß alle an einer Einigung interessiert sind, hilft hier natürlich, aber andererseits führen Tarifverhandlungen, bei denen das tatsächlich der Fall ist, oft zu langen und für beide Seiten ruinösen Streiks.
    Selbst wenn es einen Konsens darüber gäbe, wie man in einer bestimmten Situation handeln sollte, ist keineswegs klar, warum das überhaupt relevant sein sollte. Ein solcher Konsens würde doch vermutlich dem widersprechen, wie wir aus der persönlichen oder der unpersönlichen Perspektive urteilen würden – wahrscheinlich sogar beidem. Von welcher Perspektive aus entscheiden wir dann aber, ob wir das tun sollen, was alle für vernünftig halten? Nehmen wir an, alle wären dafür, etwas zu tun, was die unpersönliche Perspektive verbietet. Kann das wirklich ein Vorgehen entschuldigen, das wir aus jener Perspektive für falsch halten? Um das zu bejahen, müßten wir bereits entschieden haben, daß die unpersönliche Perspektive unser Handeln letztlich nicht bestimmen sollte. Aber aus welcher Perspektive hätten wir das entscheiden können? Zu sagen, daß es letztendlich auf eine praktische Entscheidung herausläuft, hilft auch nicht weiter, weil damit einfach erklärt wird, daß eine Entscheidung getroffen werden muß, aber es bleibt unklar, wie das geschehen soll. Es gibt keine dritte, eigenständige »praktische« Perspektive. Die richtige Balance kann auch nicht dadurch gefunden werden, daß wir fragen, worum wir uns insgesamt gesehen am meisten sorgen oder sorgen sollten, weil es sich dabei nur um eine Umformulierung der Frage handelt – oder meinetwegen um zwei.
    Die beiden von mir vorgeschlagenen Prinzipien der Würde setzen hingegen nicht voraus, daß man zwei verschiedene Perspektiven einnehmen kann, zwischen denen man sich dann entscheiden muß. Sie sind Teil einer einzigen Perspektive, die wir einnehmen müssen, um unserer ethischen Verantwortung
446 gerecht zu werden. Unser Ziel kann unmöglich ein Kompromiß zwischen jenen Prinzipien sein, weil sie zu zentral und zu wichtig sind, als daß an ihnen irgendwelche Abstriche gemacht werden können. Sie benennen die notwendigen Bedingungen für Selbstachtung und Authentizität, und diese stehen nicht zur Verhandlung. Es muß also um etwas anderes gehen. Wir müssen überzeugende Interpretationen jener Prinzipien erarbeiten, die uns für sich selbst genommen als richtig erscheinen – die also einfangen, was Selbstachtung und Authentizität unseres Erachtens wirklich verlangen – und sich wechselseitig nicht problematisieren, sondern

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