Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
Vom Netzwerk:
bedroht, die Optionen seines Opfers zu verändern, und wenn jemand mit Folter bedroht wird, und sich entscheidet, zu gehorchen, um dem zu entgehen, verfügt er weiterhin über die beiden für Verantwortung notwendigen Fähigkeiten. Wenn er aber tatsächlich gefoltert wird, ist das Ziel des Folterers ein anderes: Er versucht sein Opfer auf ein schreiendes Tier zu reduzieren, das nicht mehr zu derartigen Überlegungen in der Lage ist. Sein Ziel ist es, die Verantwortung seines Opfers auszulöschen, anstatt sie sich zunutze zu machen. Wenn Formen der Nötigung diesseits der Folter Verantwortung reduzieren, dann muß dies also aus anderen Gründen der Fall sein.
31
    Es ist ebenfalls umstritten, ob jemand, der in einem armen Ghetto geboren wird, weniger verantwortlich für eventuell asoziales Verhalten ist als Menschen aus privilegierteren sozialen Verhältnissen. Eine solche Person leidet nicht an einem Mangel an Fähigkeiten im obigen Sinn. Jemandem, der zu einem Le
428 ben in den ärmsten Gegenden einer Großstadt verdammt ist und beschließt, Drogen zu verkaufen, fehlt nicht die Fähigkeit, sein Verhalten am Gesetz auszurichten, wie das bei jemandem mit einer psychischen Erkrankung der Fall sein mag. Er weiß, daß das, was er tut, illegal ist, und kann jederzeit darüber nachdenken, ob es zudem nicht auch unmoralisch ist; er ist nicht weniger dazu in der Lage als andere, korrekte Ansichten über die Welt zu bilden oder seine Entscheidungen mit seinen Wünschen und Überzeugungen in Einklang zu bringen. Wenn wir ihn also für weniger verantwortlich halten als andere, was viele Menschen tun, müssen wir auch hier einen anderen Grund dafür finden.
    Diesen anderen Grund können wir erst dann ausfindig machen, wenn wir nicht mehr davon ausgehen, daß das Kausalprinzip unsere Verantwortungszuschreibung anleitet. Wie auch immer wir die Idee des freien Willens verstehen, es ergibt keinen Sinn zu behaupten, daß Drohungen oder Armut die normale kausale Funktionsweise des Willens außer Kraft setzen. Aber das bisher entworfene Bild der reflexiven Verantwortung eröffnet den Weg zu einem ganz anders gelagerten Vorschlag: Wir neigen dazu, in solchen Fällen von einer verminderten Verantwortung zu sprechen, weil – und wenn – Nötigung und Zwang das Ergebnis von Ungerechtigkeit sind. Unsere grundlegende Verantwortung dafür, ein gelungenes Leben zu führen, stellt einen Grund für unsere Ansprüche auf moralische und politische Rechte dar. (Ich werde einige dieser Rechte im 17. Kapitel diskutieren.) Wir können der Auffassung sein, daß diese Rechte durch einen zusätzlichen, von den bisher diskutierten Fähigkeitenfiltern unterschiedenen Verantwortungsfilter geschützt werden sollten, oder auch nicht. Die Verursacher von Ungerechtigkeiten bringen ihre Opfer um Möglichkeiten oder Ressourcen, die sehr wahrscheinlich zu anderen Entscheidungen geführt hätten.
32 Vielleicht sollten wir daher die derart verzerrten Entscheidungen nicht berücksichtigen, wenn wir zu beurteilen versuchen, wie schuldig wir oder andere sind.
429 Oder zumindest sollten wir ihnen nicht volles Gewicht verleihen: Wir sollten die Verantwortung der Betroffenen im Lichte der Ungerechtigkeit diskontieren. Dieser weitere und von dem ersten unabhängige Filter steht uns begrifflich zur Verfügung, weil die grundlegenden Fragen mit Bezug auf das System der Verantwortung nicht metaphysisch, sondern ethisch und moralisch sind. Aus genau diesem Grund ist dieser weitere Filter auch umstritten.
    Es ist von einiger Bedeutung, daß dieses letzte Argument für die Zuschreibung einer verminderten Verantwortung gerechtigkeits- und nicht fähigkeitenbasiert ist. Menschen, die inmitten einer reichen Nation in einem Ghetto leben, sind um Möglichkeiten und Ressourcen betrogen worden, auf die sie einen Anspruch haben. Wenn hingegen ein Mensch aufgrund des Zeitalters oder der Region, in der er lebt, bestimmte Mängel auf sich nehmen muß, an denen niemand schuld ist, kann er auf dieser Basis keine verminderte Verantwortung beanspruchen. Andernfalls wäre niemand für irgend etwas reflexiv verantwortlich, bis eine Ära des Wohlstands und der höchsten Zivilisation anbricht. Nur ungerechte Armut kann die reflexive Verantwortung mindern, und selbst das ist umstritten. Aus diesem Grund weisen diejenigen, die nicht der Auffassung sind, daß es sich um eine Ungerechtigkeit handelt, auch die Verminderung der Verantwortung zurück.

431 Teil IV
Moral
     

433 Kapitel 11
Von der

Weitere Kostenlose Bücher