Gerechtigkeit fuer Igel
offensichtlich, daß ermordet zu werden fünfmal so schlimm ist –, und US -amerikanische Gefängnisse haben keine Schwierigkeiten, willige Henker für ihre Todestrakte zu finden. Natürlich wäre der Gedanke, daß Ihre Nummer zu jedem beliebigen Zeitpunkt gezogen werden könnte, sehr beunruhigend, aber ist er fünfmal so beunruhigend wie zu wissen, daß Sie bei jeder ärztlichen Routineuntersuchung erfahren könnten, daß Sie bereits zum Tode verurteilt sind?
Es scheint im Interesse aller zu sein, bei dieser Ersatzteil-Lotterie mitzumachen. Wir könnten die Regeln auch weiter aus
499 bauen, um das noch deutlicher zu machen. Man könnte zum Beispiel festlegen, daß nur die Namen von Menschen ab einem gewissen Alter, deren Organe noch funktionsfähig sind und die sich zu dem Zeitpunkt, an dem die Organe benötigt werden, bereits im Krankenhaus befinden, in die Lostrommel kommen. Dann wäre es noch offensichtlicher von Vorteil, sich an der Lotterie zu beteiligen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß das eigene Leben gerettet wird, etwas geringer ausfallen würde. Warum also soll es moralisch falsch sein, Menschen so zu behandeln, als hätte es eine solche Lotterie schon immer gegeben? Dann könnten wir natürlich annehmen, daß alte Menschen im Krankenhaus, wenn ihre Organe benötigt werden, in einer fairen Lotterie verloren haben, bei der sie, wenn sie rational handeln würden, schon vor langer Zeit beigetreten wären. Tatsächlich würde eine Verwirklichung jener hypothetischen Lotterie aber bedeuten, daß jemand anderes Sie, wenn Ihr Name gezogen wird, als reines Mittel behandeln würde – also zum Vorteil anderer Ihren Tod zum Ziel hätte. Warum sollte das aber ein Problem sein, wenn alle von diesem System profitieren würden?
In der philosophischen Literatur sind unterschiedliche Antworten angeboten worden. Vertreter eines unpersönlichen Konsequentialismus schrecken vor der Möglichkeit, daß ihre Theorie Ersatzteilmorde zu gestatten scheint, zurück und wenden ein, eine solche Praxis würde das Mordtabu aufweichen und daher langfristig viel mehr Leid produzieren, als vermieden würde. Solche spekulativen Überlegungen, die eher einem Pfeifen im Walde ähneln, werden häufig herangezogen, um den Konsequentialismus aus einer Verlegenheit zu befreien. Wie bereits erwähnt, gibt es keinen offensichtlichen Grund für die Annahme, daß das Mordtabu durch diese Praxis, nicht aber durch die Todesstrafe untergraben wird. Im Gegenteil, sie erscheint im Vergleich mit der sinnlosen Todesstrafe als geradezu human. Es muß also einen besseren Grund geben. Andere Philosophen behaupten, daß es ungeachtet des möglichen Nut
500 zens immer moralisch falsch ist, den Tod einer Person zu beabsichtigen. So erklären sie unsere Reaktionen auf die Beispiele der Transplantation und des Straßenbahnwaggons und auch, warum jene Ersatzteil-Lotterie moralisch falsch wäre: Sie hätte notwendig zur Folge, daß Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt den Tod einer anderen Person beabsichtigen. Damit ist das Problem aber nur ein weiteres Mal beschrieben und nicht erklärt. Warum sollte es relevant sein, ob jemand wirklich den Tod einer kleineren Anzahl von Leuten zum Ziel hat oder einfach bewußt verursacht, wenn seine Motive moralisch gut sind und er so viele Menschen wie möglich retten möchte?
Auch das Prinzip der Doppelwirkung kann uns in seiner gängigen Interpretation keine Antwort liefern. Es schreibt der Absicht eine Bedeutung zu, ohne uns zu sagen, warum sie diese hat. Meines Erachtens kann uns aber das zweite Prinzip der Würde, dem zufolge Entscheidungen über die beste Verwendung des eigenen Lebens der Person selbst überlassen werden müssen, zeigen, wie und warum Annahmen über Absichten in diesem Kontext von Bedeutung sind.
10 (Thomas Scanlon wendet sich indes gegen die Relevanz von Absichten in Fällen der Doppelwirkung und bietet eine alternative Erklärung für sie an.
11 ) Manchmal erleide ich nur deshalb einen Schaden, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin. Ich stehe anderen im Weg, die eines ihrer Ziele zu erreichen versuchen. Konkurrenzschaden ist hier ein typisches Beispiel. Mir wird ein Schaden zugefügt, wenn sich mein kleiner Lebensmittelladen in einer Stadt befindet, die von einer Supermarktkette als neuer Standort gewählt wird. Es gibt aber auch Situationen, in denen ich einen Schaden erleide, weil andere eine Entscheidung usurpiert haben, die ich meiner Würde gemäß selbst treffen muß – eine
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